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PDF-Version Besprechung Joachim Bauer: Das kooperative Gen. Abschied vom DarwinismusVerlag Hoffmann & Campe, Hamburg, 2008In dem genannten Buch unternimmt es der Freiburger Internist und Psychiater Joachim BAUER, seinen Lesern einen Abriss neuerer Erkenntnisse der Genomforschung zu liefern, die für das Verständnis der strukturellen und funktionellen Organisation von Organismen sowie ihrer Evolution bedeutsam sind. Das flüssig und gut lesbar geschriebene Buch zerfällt im Wesentlichen in Kapitel, die in mehr oder weniger sachlicher Weise wichtige Aspekte der modernen Forschung referieren, und in Kapitel, Abschnitte und Passagen, die eher weltanschaulichen Exkursionen zuzurechnen sind. 1. Allgemeine Anmerkungen Die Fähigkeit des Autors, wissenschaftliche Sachverhalte in verständlicher Sprache darzustellen, ist in hohem Maße bemerkens- und anerkennenswert. Der Informationsgehalt ist gerade für den Laien enorm, und das Buch ist in dieser Hinsicht lesenswert. Leider sieht der Rezensent keinen Grund, das Opus uneingeschränkt zu empfehlen, denn ungeachtet der positiven Aspekte fallen - zumindest dem wissenschaftlich und wissenschaftshistorisch geschulten Leser - deutliche Mängel ins Auge. Diese Mängel könnte man in Anbetracht der im Prinzip hervorragenden Didaktik übergehen und verschweigen, wären sie nicht geeignet, bei dem Laienpublikum, an das sich das Buch wendet, irreführende Vorstellungen hervorzurufen, insbesondere vor dem Hintergrund einer nicht endenden Debatte um "den Darwinismus". Im Folgenden werden einige der kritischen Einwände, die nach Ansicht des Rezensenten zu bedenken sind, im Detail expliziert. Die Anmerkungen sollen dem Leser helfen, den Informationsgehalt des Buches von seiner weltanschaulichen Indienstnahme zu trennen. Letztere beruht vorzugsweise auf dem Verfahren, einen karikaturhaften, alles Antipodische umfassenden "Darwinismus" zu projizieren, um sodann neuere - de facto mit den (recht verstandenen) Grundprinzipien des "Darwinismus" eng verflochtene und vermutlich weiter verflechtbare - Forschungsergebnisse kontrastierend dagegen abzuheben. 1.1 Leider spannt sich der Bogen nicht angemessener Darstellungen bzw. Interpretationen vom Beginn bis zum Ende des Buches. So fasst der Autor seine Vorstellungen in Kap. 10 in einer Reihe von umrisshaften Forderungen zusammen, denen eine "Neue Theorie" zu genügen habe. Der produktive Wert dieser Zusammenstellung ist nicht klar. Gleich als erster Punkt etwa findet sich die quasi-antireduktionistische Behauptung, biologische Systeme seien "mehr als die Summe ihrer anorganischen und organischen Bestandteile". Der eine Theoriebildung fruchtbar (nicht-trivial) leitende Sinn dieser Ausführung scheint dunkel und die Forderung konzeptionell steril. Gibt es irgendeinen ernst zu nehmenden Wissenschaftler, der einen Organismus o. ä. als Summe seiner Teile betrachtet, was immer das sein mag? Ist nicht - zumal in Anbetracht einer außerordentlich umfangreichen Forschung zur Komplexitätstheorie und realen komplexen Systemen belebter und unbelebter Art - offenbar längst klar, dass sich einerseits durch räumlich-zeitlich kombinatorische Effekte und Wechselwirkungen neue Phänomene auf jeweils höherer Ordnungsebene ergeben können? Und dass diese andererseits durch nichts anderes als eben die Mechanismen niederer Ebene und ihr Interaktionspotential bedingt werden, dessen ungeachtet aber real wirken und rückwirken? Komplexität ist der Welt inhärent und sowohl reduzierbar als auch nicht reduzierbar; "Summen" sind demgemäß sekundäre Abstraktionen. Die folgenden Ausführungen zur RNA-Welt fügen dem nichts hinzu, was jenseits der fachwissenschaftlichen Analyse der RNA weiterführte. Und der wissenschaftsinhärente Reduktionismus im engeren Sinne (falls der gemeint sein sollte) beinhaltet primär nur die Annahme, dass natürliche Kräfte und Mechanismen im Prinzip ausreichen, um das Zustandekommen und die Funktion natürlicher Systeme zu erklären. Diesen Reduktionismus kann kein Naturwissenschaftler in seiner praktisch-theoretischen Arbeit in Frage stellen, ohne sich selbst in die Theologie usw. hinauszukatapultieren. Gleich der erste Satz von Forderung 1 erscheint somit als ein - vermutlich publikumswirksamer - Paukenschlag, der bei näherem Hinhören allerdings recht matt, wenn nicht gar imaginär, ausfällt. 1.2 Zu anderen der Thesen wäre Ähnliches zu bemerken. Beispielsweise wird als weiteres Ingredienz der "Neuen Theorie" die Epigenetik angeführt (Punkt 4). Die inzwischen praktisch unübersehbare Forschung auf diesem Feld zeigt jedoch eine ungeheure Vielfalt und ad-hoc-Flexibilität, von den relativ kurzfristigen über die langfristigen und irreversiblen zellulären Regulationen zu den (transient) hereditären Änderungen. Gibt es eine "Theorie der Epigenetik" (außer einer lehrbuchhaften Aufzählung von Grundmechanismen) und besteht Aussicht auf eine solche, wenn immer neue Aspekte der Komplexität entdeckt werden? Die eigens herausgestellte, vor nicht langer Zeit entdeckte RNA-Interferenz ist doch vermutlich nicht das letzte Wort. Wie sollte es dann eine "Neue Theorie" der Evolution geben, die noch viel umfassender ist? Wenn diese derzeit nicht vorliegt, so dürfte dies hauptsächlich daran liegen, dass die Erkenntnis über die Vielzahl der konkret beteiligten Mechanismen und im Einzelfall relevanten Interaktionen derart zugenommen hat und weiter zunimmt, dass es kaum möglich (und vermutlich auch überflüssig) sein dürfte, diese in eine neuartige, homogen erscheinende Gesamttheorie zu integrieren, deren prädiktiver Wert sich aus eben dieser Integration und nicht aus bekannten Einzelaspekten ableitet (die auf S. 130 gegebene Vorhersage ist ein typisches Beispiel für letzteres). 1.3 (1) Die klassische, eher phänomenologische und populationsbiologische Sichtweise der Evolution, (2) die Erkenntnisse über den modularen, multiplikativen Aufbau des Genoms und seine Modulationswerkzeuge, (3) die Sichtweise der Entwicklungsbiologie mit ihrer Betonung physischer und organisatorischer Restriktionen, (4) die Epigenetik mit ihren unterschiedlichen Zeitachsen und Regulationsebenen unter (5) den Organisations- und Selbstorganisationskonzepten sowohl der konkreten als auch der abstrakten Systembiologie zu einer adäquaten Gesamttheorie zu vereinigen, scheint eine Aufgabe für eine Population von Universalgenies. Im übrigen zeigt selbst in der theoretischen Physik, beispielsweise der Allgemeinen Relativitätstheorie, die sich als Theorie prima vista in einen kompakt erscheinenden tensoralgebraischen Formalismus fassen lässt, die Geschichte der Analyse kosmologischer Modelle angefangen von Einstein selbst, dass mit der Theorie nur begrenzt viel erreicht war, weil die Probleme in der konkreten Anwendung und Synthese mit anderen Konzepten erst anfingen. Umso fragwürdiger erscheint ein Verlangen nach einer "Neuen Theorie" in der Evolutionsbiologie. Andererseits realisiert sich implizit diese Theorie längst in der Vielfalt miteinander verzahnter und einander ergänzender Forschungsansätze. Genau diese aber wird einseitig, ja parteiisch dargestellt. Demgemäß erscheinen die in Kap. 10 aufgezählten allgemeinen Forderungen an die "Neue Theorie" - über ihren Wert als Zusammenfassung hinaus - primär als kollektiver Ausdruck einer deklamatorischen Opposition zum "Darwinismus". 1.4 Auch wird die Darstellung der Entwicklung der für die Evolution relevanten Genomforschung bis zum heutigen Tage nicht wirklich gerecht. Dies sei am Beispiel der Genduplikation kurz erläutert. So wurde die Annahme, dass Multiplikationen des genetischen Materials wesentlich für die Evolution sind, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert und wissenschaftlich verfolgt, zuerst an Pflanzen (inklusive Mais), sodann an Drosophila. HALDANE formulierte bereits in den 1930er Jahren die These, dass duplizierte Gene einen Evolutionsspielraum bieten und die Gefahr eines Funktionsverlusts für den Organismus reduzieren. Die Idee, dass Genduplikation einen absolut zentralen Faktor evolutionärer Übergänge darstellt, wurde von Ohno in den 1960er Jahren näher ausgeführt, allerdings erlaubten die seinerzeit verfügbaren genomischen Daten nur eine unzureichende Überprüfung dieser Hypothese, die in der Folge weite Beachtung fand. (Es wurde sogar der Begriff des "paranome" vorgeschlagen, um die Gesamtheit der duplizierten und diversifizierten paralogen Gene eines Organismus zu beschreiben; dieser Begriff scheint sich allerdings wissenschaftlich nicht durchgesetzt zu haben.) An bioinformatischen Analysen beispielsweise paraloger Gene im Zusammenhang mit Fragen der Evolution besteht kein Mangel, wie ein Blick in die Literatur unmittelbar lehrt. Beispielsweise finden sich (23.11.08) alleine in PubMed 577 Treffer für "paralogs AND evolution" sowie 108 Treffer für "paralogs AND evolution AND selection"; die letzte Arbeit zu diesem Thema (Devault & Bañuls, BMC Evol Biol 2008;8:292), die Licht auf die Rolle der Selektion wirft, trägt sinnigerweise den Titel The promastigote surface antigen gene family of the Leishmania parasite: differential evolution by positive selection and recombination. 1.5 Es ist unklar, ob der Autor wirklich annimmt, derartige Ergebnisse seien den Annahmen der Evolutionsbiologie zuwider oder einer offenbar antiquitätenverhafteten "darwinistischen" Wissenschaft entgangen, die einer irrwischhaften "reinen Zufälligkeit" von Punktmutationen hinterherrätselt (selbst unter diesen Prämissen dürfte die Kenntnis synonymer versus nicht-synonymer Substitutionen, genomischer hot spots etc. nicht vollständig unbekannt geblieben sein). In den Augen des Rezensenten sind die Ausführungen über Dogma versus Theorie (S. 127/8) ebenso schattenfechtend und parteiverhaftet wie inadäquat (siehe auch 1.9) und werden durch die schiere Vielfalt der Publikationen widerlegt. Auch stehen Exaptation (im Text als "Exaption" geschrieben) und "Gene im Wartestand" (S. 126) nicht im Gegensatz zum "Selektionsvorteil" (S. 127) etc., sie spezifizieren vielmehr (in einer wissenschaftlich faszinierenden, ja begeisternden Weise) den Pool jeweils verfügbarer Varianten, die mit relativ gesteigerter Wahrscheinlichkeit in geeigneter intra- und extraorganismischer Umwelt funktionsfähig sein können, aber immer trivialerweise (und sei es nur durch ontogenetisch-organisatorische Restriktionen) auch der Auswahl (=Selektion im genauen Sinne des Wortes) unterworfen sind usw. (vgl. 1.7). 1.6 Überhaupt erscheinen die gelegentlichen Bezugnahmen auf "den Zufall" nicht als tief gegründet, da sie als Kontrastfolie immer den "blinden Zufall" haben (womit wohl eine Gleichverteilung worüber auch immer gemeint ist). Was die physische Welt aber insgesamt auszeichnet, ist gerade die Abweichung von globalen Gleichverteilungen durch lokale Einengung des Raums logischer und physischer Möglichkeiten; so darf man etwa die Erde als zugleich zufällige und nicht-zufällige (durch physikalische Interaktionen bedingte) Abweichung von einer gleichmäßigen Verteilung der Materie im Weltraum betrachten. Andererseits ist alles gleichverteilt, wenn man nur die Bezugsklasse entsprechend definiert. Das alles gilt auch auf Genomebene (vgl. 1.7). Auch ist der in diesem Zusammenhang relevante Zufall der Natur der Sache nach immer "blind", sonst wäre er Determinismus oder Providenz. Ein Blinder, der statt auf einer fiktiven, strukturlosen, unbegrenzten Fläche umherzuirren ("reiner Zufall") sich in einer komplexen, realen Landschaft mit Hügeln und Tälern, Gebirgen und Schluchten bewegt, ist offenbar nach wie vor blind, auch wenn er durch Versuch und Irrtum ertastet oder er-irrt, dass gewisse Wege nicht gangbar sind, etliche andere aber wohl. Das gilt auch dann, wenn er Markierungen setzt oder eine Karte anlegt, um einmal begangene Wege nicht ein zweites Mal zu gehen, oder generell eine Präferenz nach oben, unten, rechts, links oder was auch immer zeigt, oder es sich vermehrende Blinde gibt, die sich niemals sicher sein können, alle Wege zu finden. Die Blindheit, d. h. die Unfähigkeit zur prospektiven oder gar vollständigen Übersicht, ist aber gerade das weit offene Einfallstor des Zufalls, sowohl des subjektiven als auch des objektiven. Und die mögliche Annahme des Blinden, es gebe letztlich nur einen einzigen Weg, der notwendigerweise beispielsweise nach oben (zur Krone der Schöpfung) führt, und das sei im übrigen genau der, den er gerade geht oder gegangen ist - nun, das nennt man vermutlich nicht Wissenschaft, sondern Zurechtlegung. 1.7 Ferner scheinen die eingestreuten Anmerkungen beispielsweise über die Rolle der Selektion eher als halbherziges verbales Zugeständnis, nicht aber als Ansatz zu einer fruchtbaren Synthese, welche die Evolution als eine Interaktion zwischen Genom und Umwelt auf multiplen, miteinander verschränkten Ebenen begreift. Dass Evolution nach wie vor in hohem Maße mit Auswahl verknüpft ist, alleine schon über historische Zufälle, und nicht, wie das Wort suggeriert, als reine Entfaltung eines inneren welthistorischen Programms begriffen werden kann, ist mehr als offensichtlich, wie der Autor selbst konstatiert (S. 118) (philosophisch gesehen genügt im übrigen schon ein einziger Zufall eines Details, um das Gesamte kontingent, mithin im Prinzip zufällig zu machen). Die eigens hervorgehobenen Ausführungen (S. 118), dass nun "intrinsische biologische Regeln erkennbar" seien, "die dem Geschehen im Sinne einer Bahnung eine Richtung geben" sind korrekt, signalisieren allerdings zugleich eine eigentümliche Naivität. Jedes x-beliebige Funktionssystem ist Restriktionen unterworfen, die in seiner schieren physischen Funktionsfähigkeit gegründet sind; das war auch schon vor den Entdeckungen der letzten 10-20 Jahre klar. Dass es Regeln gibt, welche die Evolution "bahnen", ist einerseits - was das Verstehen der konkreten Details angeht - wunderbar, andererseits aber dem Prinzip nach (bei nicht verengtem Blick) evident. Hierbei sind "extrinsische" und "intrinsische" Regeln untrennbar miteinander verquickt, da die verschiedenen Organisationsebenen aufeinander wirken. Zum Beispiel können Organismen nicht die Schwerkraft oder Chemie außer Kraft setzen oder die Zeit in der Folge molekularer Abläufe ignorieren oder eben auch Genome nach Belieben strukturieren. So zeigen biomathematische Berechnungen auf eindrucksvolle Weise, dass Hierarchie, Organisation und partielle Genabschaltung (Reduktion des Suchraums) ab einer bestimmten Genomgröße schon aus Gründen einer endlichen physikalischen Zugriffszeit unumgänglich, d. h. zwingend werden usw. Was wir seit Aufkommen der Genomforschung besser verstehen, ist, dass die Module dann auch in der Variation häufig als Module erhalten bleiben. Beim geistigen Zurücktreten um einen Schritt ist das völlig plausibel, denn die funktionslogisch unumgängliche Modularisierung eines linearen Genoms in endlich große (d. h. in endlicher Zeit handhabbare) Pakete erfordert ja einerseits konservierte Bereiche und andererseits zwischen diesen Schnitt- oder Klebestellen, die naturgemäß flexibler sind, usw. Wer allerdings als fixe Kontrast-Idee im Verständnis der Evolution einen irrlichterierenden "reinen Zufall" internalisiert hat, läuft Gefahr, genau diese innige Verquickung von "Zufall und Notwendigkeit" zu verkennen (und im übrigen einem tiefsinnig-oberflächlichen "Geheimnis des Lebens" nach Art stark-anthropischer Argumente Tür und Tor zu öffnen). "Bahnungen" finden sich auf allen Ebenen in der belebten und unbelebten Natur, da es ja offenbar Regeln und Interaktionspotentiale gibt, denen sich der "blinde Zufall" zu stellen hat. Genomische Variationen inklusive Reorganisationen können und werden immer stattfinden, nur ist der durch die Umwelt im weitesten Sinne gegebene oder aufgezwungene Raum der produktiven und der akzeptablen Möglichkeiten einmal weiter, einmal enger, und also auch das Resultat verschieden. Eine "Anhäufung zufälliger Mutationen" und die "vom Genom selbst ausgehenden Veränderungen der genomischen Architektur" (S. 87) als einander entgegengesetzt zu konstruieren, erweckt im Lichte obiger Überlegungen zur Durchgängigkeit, Vielfalt und Interdependenz von Organisation und Selbstorganisation den Anschein eines einspurigen, quasi-manichäischen Denkens, dem die Evolutionsbiologie primär in Extreme zerfällt. Demzufolge erscheint das "vom Kopf auf die Füße stellen" (S. 103/4) als schiere Rabulistik, die der gemäß Autoren-Machtspruch passend gewählten, antikisierenden Projektion "des Darwinismus" verdankt ist. Diese und analoge Ausführungen kommen daher wie ein semantisches Trickspiel, das wirkliche, übergreifende Einsichten verstellt und mit seinen artifiziellen Kontrastierungen und Konstruktionen in der Sicht des Rezensenten bisweilen die Grenze zum Absurden, zum konzeptionellen Realitätsverlust berührt (z. B. S. 126). Der Mangel an übergreifender Perspektive macht sich immer wieder schmerzlich bemerkbar, und der "Einblick", der auf S. 14 angekündigt wird, trägt offenbar ab initio die vom reinen Zufall abweichende Disposition, zum Einseitsblick zu mutieren. Dass bezüglich der Mechanismen und Effizienz genomischer Reorganisationen, ihrer Entstehung, Implementierung und Beibehaltung, der Rolle der RNA-Interferenz etc. sehr viel mehr Fragen offen als beantwortet sind, sollte ebenfalls nicht unerwähnt bleiben statt im Effekt zu suggerieren, hier liege die Antwort auf alles Wesentliche ("der Kooperationismus" als nächstes zu verabschiedendes Dogma?). Ob der in diesem Buch vorherrschende Usus polarer Argumentation einem profunden Verständnis der Evolution förderlich ist, darf zweifelhaft erscheinen. Vielmehr deutet sich ungeachtet anderslautender Suggestionen vor allem ein Mangel an übergreifender Perspektive an, die ihr Fundament in globaleren Einsichten von beispielsweise mathematischer Systemtheorie, theoretischer Biologie, Physik sowie theoretischer Philosophie und Wissenschaftstheorie hat, ohne deshalb zwingend einem sog. Reduktionismus anheimzufallen. Bei einer Beschränkung auf die naturwissenschaftliche Sache wäre dieser Mangel unerheblich; wer allerdings mit dem Anspruch einer grundlegenden Erneuerung der Perspektive auftritt, sollte zumindest versuchen, diese adäquat mit anderen Aspekten zu verbinden anstatt zu weiten Teilen einer im genauen Sinne des Wortes kurzsichtigen Polemik zu huldigen. 1.8 Entsprechend dürfte das Unterfangen, "den Darwinismus" zu "verabschieden" zugunsten einer dem Laufe der Forschung inhärenten, molekularen, mechanistisch weiter gespannten, an den Interaktionen von Genom und Umwelt orientierten Betrachtungsweise, etwa so sinnvoll sein wie im 19. Jh. "den Magnetismus" oder "die Elektrizität" zu "verabschieden" zugunsten des maxwellschen Elektromagnetismus. Analoges gilt für die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung in der Physik der zweiten Hälfte des 20. Jh. Wurden die auch verabschiedet zugunsten der Vereinheitlichung? Sind chemische und elektrische Vorgänge, Betazerfall und Kernfusion weniger real oder bedeutsam, weil sie als Manifestationen einer übergreifenden Kraft im niederenergetischen Bereich interpretiert werden? Dies nach Symmetriebrechung, also gewissermaßen "Diversifikation nach Duplikation", welche offenbar der Struktur der physischen Welt auf allen Ebenen zugrundeliegt. Und zeigt nicht die Wissenschaftsgeschichte, klassischerweise etwa der Relativitäts- oder Quantentheorie, die gerne als Musterbeleg für Revolutionen (Verabschiedungen im populären Sprachgebrauch) herangezogen wird, bei intimerer Kenntnis etwas anderes? Sind die newtonsche Gravitation oder der klassische Elektromagnetismus nicht gerade darin aufgehoben? Jeder, der die Theorien kennt, sieht neben den neuen Konzepten (bis in die allerletzten Entwicklungen hinein) auch die formale und geistige Kontinuität (Erhaltungssätze, Hamiltonformalismus, Wirkintegrale etc.), die zugleich mit einer quasi-natürlichen Re-Interpretation oder Erweiterung zentraler Begriffe einhergeht. Ähnliches findet sich regelhaft, bis hin zur Historie der Mathematik, in der ja neue Konzepte in besonderem Maße theoriebildende Implikationen haben. Eine ebenso verwickelte, von multiplen geistigen Überschiebungen und Verwerfungen bestimmte Geschichte weist die Evolutionsbiologie auf; Ernst MAYR hat das deutlich herausgearbeitet (What Makes Biology Unique, Cambridge, 2004). Jede nähere Beschäftigung mit der Entwicklung naturwissenschaftlicher Theoriebildungen lässt gegenüber Schematisierungen, inklusive solchen der populären kuhnschen Art, skeptisch werden. Wer immer für die sich im Untertitel manifestierende Ausrichtung verantwortlich gewesen sein mag - ein Signum überlegener, integrativer, wissenschaftstheoretisch und -historisch fundierter Kompetenz wird man darin schwerlich erblicken können. Und so entpuppt sich als besondere Ironie des Buches, dass die intellektuelle Attitüde die Idee der Kooperation - im Sinne einer geistigen Integration - vom Ansatz her ignoriert oder dementiert. 1.9 Symptomatisch scheinen auch die selbstgewissen Ausführungen zum "tautologischen Charakter" der "Kernsätze des darwinistischen Dogmas" (S. 104), die offenbar die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und Begriffsbildungen wesentlich verkennen. Theorien, die diesen Namen verdienen, tragen schon aufgrund ihrer zur Verknüpfung von Beobachtungen erforderlichen internen Konstrukte (theoretischen Terme) regelhaft in gewissem Sinne zirkuläre Züge, ohne deswegen notwendigerweise den Kontakt mit der messbaren Realität zu verlieren. Dass diese Kritik "vielfach immer wieder" geäußert wurde, erweist also immer wieder Wenigfaches. Man nehme ein einfaches, durchsichtiges Beispiel, die klassische newtonsche Gravitationstheorie. Wie ist Gravitation definiert? Durch ihre Wirkung auf schwere Massen. Wie ist schwere Masse definiert? Durch die Wirkung schwerer Massen aufeinander in Form der Gravitation. Also ein "tautologischer Charakter" par excellence (die Ankopplung der schweren an die träge Masse per Proportionalität ist eine andere Geschichte). Doch - horribile dictu - geht es etwa der Allgemeinen Relativitätstheorie als übergreifender (gemäß der Diktion des Autors: verabschiedender) Theorie nicht besser: Ceteris paribus definiert die Raumkrümmung die Massenverteilung, und die Massenverteilung determiniert die Raumkrümmung. Ei der Daus! möchte man da ausrufen. Doch sind diese Theorien deshalb wirklich des Teufels? Die bloße Tatsache, dass das Buch beansprucht, "den Darwinismus" mittels empirischer Daten zu widerlegen, zeigt, dass ein wesentlich empirischer (nicht-tautologischer) Gehalt vorausgesetzt wird. Zum diffizilen, nach wie vor ganz unterschiedlich interpretierten Problem der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Erklärung sei im übrigen auf die Arbeiten herausragender Wissenschaftstheoretiker und Geisteswissenschaftler verwiesen, so das ausgezeichnete, nicht ganz anspruchslose Buch des verstorbenen Cambridger Philosophen und Physikers Peter LIPTON (Inference to the Best Explanation, Cambridge, 2004). 2. Bezug zur wissenschaftlichen Literatur Als nächstes seien exemplarisch drei Publikationen kurz referiert, um den substanzwissenschaftlichen Kontext des Buches zu beleuchten. 2.1 So wird u. a. die Arbeit von G.P. WAGNER et al. (PNAS 2003;100:14603) als Beleg für die Bedeutung von Hox-Cluster-Duplikationen in der Evolution angeführt (S. 64). Der Sache adäquater wäre beispielsweise die verwandte, neuere Arbeit von LYNCH et al. (BMC Evolutionary Biology 2006, 6:86) gewesen, auf der G.P. WAGNER als Senior Author fungiert. Allerdings zeigt diese Arbeit exakt die Wirkung "darwinistischer" Prinzipien auf das Ergebnis der Duplikation der Hox-Gene. Mittels verschiedener Verfahren, darunter des klassischen Vergleichs synonymer und nicht-synonymer Substitutionen, kommen diese Autoren zu folgenden Ergebnissen, die schon dem Abstract klar zu entnehmen sind: "... suggesting that duplicated Hox cluster genes are involved in the genetic mechanisms behind the diversification of vertebrate body plans, and the origin of morphological novelties. Preservation of duplicate genes is promoted by functional divergence of paralogs, either by subfunction partitioning among paralogs or the acquisition of a novel function by one paralog. But for Hox genes the mechanisms of paralog divergence is unknown, leaving open the role of Hox gene duplication in morphological evolution ... Here, we use several complementary methods ... to show that the homeodomain of Hox genes was under positive Darwinian selection after cluster duplications ... Our results suggest that positive selection acted on the homeodomain immediately after Hox clusters duplications. The location of sites under positive selection in the homeodomain suggests that they are involved in protein-protein interactions. These results further suggest that adaptive evolution actively contributed to Hox-gene homeodomain functions." Im Text diskutieren die Autoren auch die Evidenz für negative Selektion etc. Die Synthese verschiedener Betrachtungsweisen und Mechanismen wurde und wird in derartigen Arbeiten längst geleistet. 2.2 Bekanntlich stellt die breitbandige Einführung von Antibiotika durch den Menschen für pathogene Mikroorganismen eine ökologische Katastrophe dar, auf die sie mit Hilfe evolutionärer Mechanismen reagieren. Zu diesen gehört die resistenzübertragende Aktivität von Transposonen. Im Vergleich zu den Genomen höherer Organismen liegt insofern eine vorteilhafte Situation für die Analyse vor, als die Prozesse relativ jung und somit leichter im Rauschen anderer genomischer Ereignisse zu identifizieren sind. In einer bioinformatischen Analyse betrachtete A. WAGNER (PLOS Computational Biology 2(12): e162; 2006) vergleichend die Genome verschiedener Mikroorganismen unter dem Aspekt der Kooperation. "Kooperation" hat hier naturgemäß eine präzise Bedeutung, nämlich diejenige eines definierten Zusammenspiels zwischen Parts eines Transposons. Dass es sich um Prokaryoten handelt, stellt keine wesentliche Einschränkung in Bezug auf die prinzipiellen Mechanismen dar. Der Titel der Arbeit Cooperation is Fleeting in the World of Transposable Elements spricht für sich. Das synthetische Zusammenspiel zwischen "selektionistischen" und "transponierenden" Mechanismen wird durch eine umfassende Analyse unter Verwendung leistungsfähiger bioinformatischer Werkzeuge belegt und im Detail dargestellt; Termini wie "cooperation", "selection" und "selfish" werden in definierter Weise gehandhabt. Schon dem Abstract ist zu entnehmen: "Composite transposons are key vehicles for the worldwide spreading of genes that allow bacteria to survive toxic compounds. Composite transposons consist of two smaller transposable elements called insertion sequences (ISs) ... Each IS ... can either transpose alone, selfishly, or it can transpose cooperatively, jointly with the other IS. Cooperative transposition can enhance an IS's chance of survival, but it also carries the risk of transposon destruction. ... the conditions under which cooperative transposition is an evolutionarily stable strategy (ESS) are not biologically realistic. I then analyze the distribution of thousands of ISs in more than 200 bacterial genomes ... If cooperative transposition was an ESS, then ... should be ... The data show that this is not the case. Cooperativity can only be maintained in a transitional, far-from-equilibrium state shortly after a selection pressure first arises. This is the case in the spreading of antibiotic resistance, where we are witnessing a fleeting moment in evolution, a moment in which cooperation among selfish DNA molecules has provided a means of survival. Because such cooperation does not pay in the long run, the vehicles of such survival will eventually disappear again." Dies ist nur eines von etlichen Beispielen dafür, dass die reale evolutionsbiologische Forschung Begriffe wie "Kooperation" und "Selektion" produktiv verwendet, ohne einer Zweck-Karikatur anzuhängen. 2.3 Als subtileres Beispiel seien die Ausführungen gewählt, dass sich das biologische Denken nachhaltig ändern müsse, und zwar im Zusammenhang mit den Befunden von Barbara MCCLINTOCK (S. 29/30). Hier wird als zusätzlicher ("siehe auch") Gewährsmann der Mathematiker Martin A. NOWAK zitiert. Wer dessen hervorragendes Buch Evolutionary Dynamics (Harvard, 2006) kennt, weiß, dass er seit etlichen Jahren vor allem unter Einsatz spieltheoretischer Modelle versucht zu verstehen, wie unter Anderem Kooperation entstehen kann, und zwar im Wesentlichen gerade auf der Basis von Mutation und Selektion (etwa via differentielle Reproduktion). Er zeigt, dass hierzu bestimmte Randbedingungen und Zusatzmechanismen erforderlich sind, die er formaliter analysiert. Wenn M. A. NOWAK etwa in dem zitierten Science-Artikel am Ende "natural cooperation" "as a third fundamental principle of evolution beside mutation and natural selection" vorschlägt, dann zeigt schon die Auswahl der fünf von ihm explizit diskutierten Mechanismen der Kooperation "kin selection, direct reciprocity, indirect reciprocity, network reciprocity and group selection" (es gibt einige weitere), dass dieses Prinzip auf das engste mit den anderen Prinzipien verkoppelt und in den "Darwinismus" eingebettet ist. Wie das genaue Studium der mathematischen Modelle zeigt, arbeitet das kooperative Prinzip sogar weitestgehend mittels dieser anderen Prinzipien (in geeignet erweiterter Form). Derartige Analysen beleuchten im übrigen auch, dass "Kooperation" ein schillernder Begriff ist und in stabilen Phasen eine andere Bedeutung als in instabilen Phasen haben kann. Und von einem "vorsichtigen" "Hinweisen" kann vermutlich bei M. A. NOWAK nach Wahrnehmung des Rezensenten angesichts seines Werdegangs keine Rede sein. 2.4 Analoge Beispiele aus der evolutionsbiologischen (Genom-)Analyse sind Legion; dies zu sehen reicht eine einfache Literaturrecherche. Im Rahmen dieser Ausführungen müssen die angeführten Beispiele genügen. Sie illustrieren in der Sicht des Referenten unter Anderem ein problematisches Verfahren, Literatur als Beleg heranzuziehen. Zum Einen äußert sich dies in einer einseitigen Auswahl, in der offenbar nicht in die Dramaturgie passende Arbeiten, in denen de facto eine Synthese geleistet wird, systematisch unterrepräsentiert sind oder unterschlagen werden. Zum Anderen werden die zitierten Arbeiten teils einseitig ausgelegt. Selbstverständlich ist es in der Wissenschaft nicht unüblich, selektiv Arbeiten heranzuziehen, die die eigene Sicht der Dinge stützen, oder eine Arbeit, die mehrere Aspekte umfasst, als Beleg für einen einzigen, im jeweiligen Kontext relevanten Aspekt anzuführen. Dies ist aber in der Regel leicht kontrollierbar. In einer generalisierenden Darstellung, wie sie das vorliegende Buch verfolgt, und angesichts eines Laienpublikums, dem die Kompetenz fehlt, gewinnt dieses in nicht vernachlässigbarem Umfang befolgte Verfahren allerdings etwas vom Hautgout der Irreführung. So wird das - möglicherweise publizistisch attraktive - Bild revolutionärer, vom Autor verkündeter Umwälzungen lanciert, obgleich gerade die Geschichte der Evolutionsbiologie, wie die anderer Disziplinen, eine Geschichte kontinuierlicher, fruchtbarer, und naturgemäß auch streitbarer, Synthesen darstellt und vermutlich auch weiter darstellen wird. Der Rezensent (der nicht als Evolutionsbiologe arbeitet, aber die Literatur dazu für seine wissenschaftlichen Interessen vor allem aus bioinformatischer, systembiologischer Perspektive sichtet) fragte sich an etlichen Stellen, wo eigentlich das Problem liegt, außer in einem dämonenhaft projizierten "Darwinismus". Auch bestand mehr als ein einziges Mal Anlass zu bedauern, dass Chancen für eine differenzierte, integrative, der Sache eher angemessene Darstellung vertan wurden. 3. Ethisch-moralischer Kontext Über das Gesagte hinaus erscheint dem Rezensenten ein weiterer Aspekt bedeutsam. Die gesamte Darstellung und ihre Umrahmung in den einleitenden und finalen Kapiteln erwecken den Eindruck, dass moralische und gesellschaftliche Überlegungen ein zentrales Antriebsmoment dieses Buches darstellen. Der Autor moniert verschiedentlich die Übertragung "darwinistischer" Prinzipien in die Gesellschaft, und die (in den Augen des Rezensenten ebenfalls partiell die Sache verfehlenden) Ausführungen über Konrad Lorenz unterstützen diesen Eindruck. Eine maßgebliche Rolle für die Art der Darstellung scheint die Aversion gegen Richard DAWKINS zu spielen. Dies ist in doppelter Hinsicht bedauerlich. Zum Einen übt die Fixierung auf die "Widerlegung" dieses bekannten Autors offenbar einen Zwang zur Schematisierung und Kontrastierung aus, der unmittelbar auf das Feld wissenschaftlicher Verkürzungen führt. Zum Anderen begünstigt dies eine moralische Aufladung, die wiederum die einseitige Interpretation der Forschung befördert. Dieser Interpretation liegt offenkundig das Bestreben zugrunde, den unerwünschten Konsequenzen einer Übertragung DAWKINScher Konzepte in die menschliche Lebenspraxis mit dem Nachweis moralisch erwünschter Konzepte im Walten der Natur zu begegnen. Zweifelsohne wird vielen Lesern die Grundeinstellung des Autors zusagen. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, ob Intentionen oder Implikationen nicht-naturwissenschaftlicher Art nicht auf einer Fehlinterpretation beruhen, die bereits im Vorfeld kritisch gemustert werden sollte. 3.1 Im Vergleich zu "survival of the fittest", "Selektion" und "Mutation" etc. weisen Begriffe wie "Kommunikation", "Kooperation" und "Kreativität" eine verführerische Strahlkraft auf. Dieser Glanz ist jedoch trügerisch. Auch prima vista positiv besetzte Begriffe unterliegen bei Bedarf nahezu beliebigen Re-Interpretationen, wie die Geschichte politisch-ökonomischer Ideologien alleine der letzten 100 Jahre eindrucksvoll zeigt. Diese Prozesse halten unverändert an; man verfolge beispielsweise, wie leichtgängig Begriffe wie "frei", "sozial", "gerecht", "Bildung" etc., die per se mit einem weiten Bedeutungshorizont versehen sind, interpretatorisch verengt und teilweise in ihr Gegenteil umgedeutet wurden. Selbst Religionen stellen nicht notwendigerweise ein verlässliches Hindernis auf dem Wege inakzeptabler Interpretationen dar, auch wenn man das Gegenteil wünschte. Innerhalb des Christentums beispielsweise lassen sich (und ließen sich) etwa im Gefolge augustinischer und ähnlicher Konzepte ohne Weiteres Lehren formulieren, die einem Sozialdarwinismus oder moralisch abgesicherten Egoismus in praxi äquivalent sind. Auch der vielfach goutierte Buddhismus bietet vermittels eines individuell-bezogenen Karma im Prinzip ein ähnliches Deutungspotential. Analoges gilt für die sozial relevante Philosophie, bis hin zu dem im Schwange befindlichen, ad libitum anpassungsfähigen Konstruktivismus bzw. der ad vanitatem versatilen (nicht mathematisch-naturwissenschaftlichen) sog. Systemtheorie, deren geistige Patin, die Institutionenlehre, in statu nascendi beispielsweise ihre Kompatibilität mit dem seinerzeit herrschenden politischen System ohne Weiteres erwies. Muss man nicht für möglich, ja wahrscheinlich halten, dass Begriffe wie "Kooperation", "Kommunikation" und "Kreativität" bei Bedarf stante pede angepasst werden? Wer die Transposition darwinistischer Naturinterpretationen in die moralische Sphäre mit Hilfe eines analogen, primär auf verbalen Assoziationen beruhenden Nachweises menschlich positiv besetzter Prinzipien in der Natur bekämpfen möchte (und der gesamte Kontext spricht dafür, dass dies eine zentrale Absicht des Buches darstellt), muss sich gemäß dem Konzept des naturalistischen Fehlschlusses fragen lassen, ob er nicht den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben unternimmt. 3.2 Begriffe wie "Kooperation" haben in der Wissenschaft in der Regel einen konkreten, genau umrissenen Sinn, der nur indirekt mit dem Alltagssinn zusammenhängt. Wer solche Begriffe in der Chemie, Physik oder Biologie produktiv verwendet, verkoppelt sie mit einem präzisen Kontext oder Modell, ggf. in mathematischer Formulierung. Dieser Sinn darf offenbar nicht mit dem weiter gefassten, vergleichsweise unscharfen Sinn identifiziert werden, den das Wort im gesellschaftlichen Gebrauch besitzt. Entsprechend sind Assoziationen zwischen dem konkret wissenschaftlichen Gebrauch beispielsweise des Wortes "kooperativ" in der Aktion von Molekülen, Enzymen, Transposonen etc. und dem Gebrauch in der menschlichen Lebenspraxis in der Regel irreführend. Mit einem Begriff wie "Kooperation" lassen sich bei geeigneter Interpretation ebenso gut inhumane Verhältnisse rechtfertigen, wie dies etwa durch den sog. Sozialdarwinismus geschehen ist und geschieht. 3.3 Wer das Genom als Beleg für Kooperation in der Natur heranzieht, sollte nicht übersehen, dass die "Kooperation" zwischen Genen oder ihren Duplikaten, Transposonen etc. alles andere als ein friedliches Spiel und wundervolles Agieren gemäß einer win-win-Ideologie darstellt. Als ob es da nicht Mengen von Verlierern gäbe, denn "probiert" wird allemal. Übrigens zeigen z. B. spieltheoretische Analysen eindrucksvoll, wie inhomogen, fragil und sensitiv gegenüber Randbedingungen in vielen Fällen "Kooperation" ist. Biologische Systeme arbeiten nicht perfekt, Transposonen u. ä. folgen keiner statistischen Gleichverteilung ("blinder Zufall"), sind aber dennoch dem Zufall, den Wechselfällen genomischer Interaktionen und damit auch dem Versagen ausgesetzt usw. Im Extremfall: Sind denn beim Menschen "Duplikationen" etwa in Form von Trisomien Zeichen übermäßiger Gesundheit oder evolutionär vielversprechender phänotypischer Modifikationen? Kommunizieren nicht polyploide Tumorzellen gerade weniger als gesunde Zellen, vor allem interzellulär? Usw. Multiplizierte Gene können ohne Weiteres dysfunktional und überflüssig werden sowie verlorengehen. Ferner unterliegen Gene in einem funktionsfähigen Organismus einer strikten regulatorischen Hierarchie, sowohl während der Ontogenese als auch während des adulten Lebens. 3.4 Warum sollte man nicht per Analogieschluss beispielsweise einen ordentlich diversifizierten Ständestaat rechtfertigen und darin bei Bedarf die Elimination unpassender Elemente betreiben können? Sind nicht als überflüssig und perspektivlos erachtete Menschengruppen dysfunktionale Paraloga und bestenfalls eine Art genomischer Verschiebemasse, die ggf. auch deletiert werden kann? Sind nicht etwa die vielfältigen Insektenstaaten mit ihren Kasten Musterbeispiele für modularen, parallelen, diversifizierten Aufbau im Dienste von Kooperation, Kommunikation und kreativer Anpassung? Und warum sollte die genetische Diversifikation duplizierter Gene nicht als Vorbild für eine rasche Entwicklung des Menschen in mehrere Arten dienen? Beispielsweise mit einer Helotenart (housekeeping genes, analog Wegwerf-Arbeiter des Ameisenstaats), einer Funktionsträgerart (zelltypspezifische Gene im Sinne funktionaler, kreativer Expansion; inklusive einer eventuell an Raumfahrtmissionen angepassten Subspezies mit verkürzten Gliedmaßen und physiologisch vorteilhaften Dispositionen), sowie einer hinreichend abgesetzen Herrenmenschenart (master controllers, molecular network hubs); die beiden letzteren könnte man auch zusammenziehen. Schließlich folgen doch beispielsweise auch die Knotengrade molekularer Interaktionsgraphen lebender Systeme in der Regel nicht einem Potenzgesetz; vielmehr sind niedrige und hohe Grade relativ überrepräsentiert, also gewissermaßen in der Verteilung isoliert. Die Natur weist also multiple Evidenz in Richtung einer Diversifikation per Hierarchisierung auf. 3.5 Sollten wir nicht die Entwicklung des Menschen in separate Arten sogar nach Kräften fördern? Sind nicht derartige, in kürzester Zeit erfolgende Radiationen geradezu typisch, ja essentiell für globale Stress-Situationen, in denen sie das Überleben des Lebens ermöglichten, wie der Autor selbst nicht müde wird zu betonen? Liegt nicht eine solche Umweltsituation im weitesten Sinne vor oder steht bevor, gleich ob vom Menschen selbst erzeugt oder ihm extern aufgezwungen? Und sollten wir nicht zu diesem Zweck das gesamte Repertoire jetziger und zu erwartender gentechnischer Methoden einsetzen? Stellen nicht diese Methoden zu weiten Teilen nur die Operationalisierung (Steigerung von Effizienz, Zielgenauigkeit, Versatilität) eben derjenigen Techniken dar, welcher sich Transposonen, Retroviren und andere genomische Elemente natürlicherweise bedienten, als sie die Evolution - auch die des Menschen - wesentlich formten? Und wenn wir den auch in der Aktion von Transposonen etc. verbleibenden (und offenbar generell perhorreszierten) "blinden Zufall" auf diese Weise ein wenig zurückdrängen, muss das denn zwingend von Übel sein? Warum sollten Menschen nicht in der Lage sein, das im Genom bereits "Gebahnte" aufgrund ihrer Einsicht zu nutzen und beschleunigt weiterzuentwickeln? An den Fehlermöglichkeiten kann es doch nicht liegen, denn die Natur lernt schließlich auch durch trial and error dazu. Für den unvermeidlichen Fall, dass Missgriffe unterlaufen (wie sie eben auch reichlich in natura vorkommen; wir sehen eben primär die (noch) funktionierenden Überlebenden): Unterliegen nicht auch notwendigerweise und natürlicherweise die Aktionen der Genduplikation, Transposition in einen anderen regulatorischen Kontext etc. zumindest der reinigenden Selektion, die wir somit vollauf akzeptieren oder begrüßen dürfen? 3.6 Sollte man dann nicht ebenfalls einer Entwicklung vertrauen, in der eine gewalttätig oder strukturell abgesicherte Klassenbildung eine Diversifikation unterstützen kann? Findet sich dann nicht, was kreativ zusammengehört, und divergiert dann nicht, was eben nicht kreativ zusammengehört? Deuten nicht beispielsweise gewisse Charakteristika des Sozial- und Heiratsverhaltens womöglich schon in diese Richtung? An Kooperation und Kommunikation dürfte es auch unter diesen Prämissen nicht fehlen. Schließlich belegt die evolutionsbiologische Analyse von Genomen verschiedener Organismen doch regelhaft ihre intensive Kommunikation, typischerweise auch zwischen Parasit und Wirt usw. Und das weite Themenfeld der Symbiose zeigt, dass Konkurrenz und Kooperation sich ohnedies bisweilen zum Verwechseln ähnlich sehen können. Kommunikation ist doch keineswegs nur Übereinstimmung, sondern auch und vor allem Auseinandersetzung (mit allen oder nahezu allen Mitteln, wie etwa auch die Geistesgeschichte inklusive Philosophie und Theologie nachdrücklich zeigt). 3.7 Wo also läge am Ende der Unterschied zum klassischen Sozialdarwinismus? Auch dieser setzte doch nicht nur Individuen, sondern typischerweise auch Gruppen als konkurrierend gegeneinander. Nur waren die angenommenen Mechanismen plumper, technisch weniger ausgereift und letztlich ineffizient (man denke nur an die Ausrottung monozygoter Merkmalsträger im Lichte der durch das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht gegebenen Prävalenz rezessiv Heterozygoter). Doch das könnte sich ja nun mit Enhanced Natural Genetic Engineering on the Basis of Modularity and Cooperation (ENGEBMoC) zum Positiven ändern: Früher wurde primitiv aktiv ausgerottet, jetzt lassen wir die überholten bzw. uninteressanten Modelle einfach auslaufen bzw. verwenden sie kommunikativ-kooperativ-kreativ als kombinatorisches oder zu deletierendes Rohmaterial. 3.8 Vielleicht lassen diese, nur einige der Denkmöglichkeiten demonstrierenden Ausführungen Lesern, die gerne "das Positive" in der Natur realisiert sehen (möchten), um sich ggf. ebenso moralisch wie naturgemäß zu verhalten, einen Schauer über den Rücken laufen - sofern noch eine Idee dessen vorhanden ist, was ehedem emphatisch "die Einheit des Menschengeschlechts" genannt wurde. Die ethisch-moralischen Konnotationen der in diesem Buch hervorgehobenen Begriffe, die einer demonstrativen Opposition gegen "den Darwinismus" geschuldet zu sein scheinen, kann man mit Leichtigkeit als ebenso unheilsträchtig ansehen wie diejenigen, gegen die sie sich wenden. Auch sei nicht verschwiegen, dass nach Ansicht des Rezensenten die tendenziöse Darstellung ungeachtet anderslautender Bekundungen vermutlich denjenigen Vorschub leisten wird, die dem offenen, nicht endenden Suchen nach einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit eine kurze, definitive Antwort vorziehen oder unterlegen; beispielsweise lädt die Art der Darstellung des Wirkens genomreorganisierender Transposonen, das der Autor gegen seine Auffassung des sog. blinden Zufalls absetzt, hierzu mehr als genügend ein. 4. Schlussfolgerungen Im Lichte dieser Überlegungen wäre zu wünschen, dass ein didaktisch so begabter Autor wie Joachim BAUER in einer eventuellen Neuauflage eine differenziertere, konstruktivere Darstellung des Wissensstandes, der stattgehabten und stattfindenden produktiven Synthesen sowie der relevanten Wissenschaftshistorie anstrebt. Der Rezensent zweifelt nicht daran, dass hier sehr gut lesbare, spannende Darstellungen gelingen können. Zu diesem Zweck sollte die das Thema von Neu und Alt, Gut und Böse etc. in wissenschaftliches Gewand drapierende Pose entfallen, denn sie rückt das Buch mit eigener Hand, und eigentlich unverdientermaßen, in die Gesellschaft marktschreierischer Pamphlete just in time. Auch sind die inadäquaten Darstellungen geeignet, dem - im Prinzip sympathischen - humanen Ethos des Autors einen Teil seiner Überzeugungskraft zu entziehen, sofern man an der Einstellung festhält, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. Einem Opus zu begegnen, das sich eine realiter vielschichtige, beziehungsreiche, kreative und fließende Forschung im Dienste eines antithetisch-künderischen Gestus zu einer schlichten Dramaturgie hinbiegt, ist ein zwiespältiges Vergnügen. Andere Autoren, die dieses Rezept nutzen wollten, etwa in der Art "Die Welt der Strings - Abschied von der Teilchenphysik" oder "Multimodale Krebsbehandlung - Abschied von der Chemotherapie" oder auch "Die Oper als Gesamtkunstwerk - Abschied vom Komponieren", dürften vermutlich nur dann reüssieren, wenn sie ebenfalls ein in der Öffentlichkeit von vordergründigem Getümmel beherrschtes Feld wählen. Autor: Rudolf Jörres |