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Neues aus der Forschung

Evo-Devo: Bauplaninnovationen in der Insektenwelt

Wie die Evolution aus alten Genen neue Baupläne schafft


Buckelzikaden

Die mehr als 3000 Arten von Buckelzikaden (Membracidae) bewohnen überwiegend tropische und subtropische Lebensräume. Sie zeichnen sich durch einen so genannten Helm aus, einen dorsalen (d.h. rückenwärts gelegenen) Auswuchs des ersten Brustsegments (Pronotum), der meist die ganze Oberseite des Insekts abdeckt. Diese "kunstvollen" Gebilde sind in ihrer Form überaus vielfältig. Sie dienen der Tarnung, der Mimikry usw. und imitieren Stacheln, Zweige, Dornen, ja sogar aggressive Ameisen und vieles andere. Die meisten Morphologen nahmen an, dass es sich bei diesen Gebilden um eine Vergrößerung des Rückenschilds handelt, obwohl eine Minderheit der Ansicht war, es handle sich um echte Körperanhänge, ähnlich wie Gliedmaßen und Flügel.

Titelbild: Buckelzikaden (Umbonia crassicornis). Bildquelle: Marshal Hedin from San Diego, Umbonia crassicornis (F. Membracidae) (2532975946), CC BY 2.0

Eine Autorengruppe um Benjamin Prud'homme (Marseille) konnte nun zeigen, dass die letztere Deutung zutrifft (PRUD'HOMME et al. 2011). Der Helm ist mit dem Pronotum gelenkartig verbunden, und dies zweiseitig. Er wird früh in der Entwicklung der Tiere, im sog. Nymphenstadium, paarig angelegt. Die Anlagen verschmelzen erst später entlang der Rückenmitte.

Da außer Flügeln keine dorsalen Anhänge bei Insekten existieren, müsste der Helm dem ersten von drei Flügelpaaren homolog sein, die auch nach paläontologischen Funden zum Urbauplan der Fluginsekten gehören.1)

Eine Reihe von morphologischen Details stützt diese Annahme. Das erste Flügelpaar ist überall sonst verschwunden, seine Ausbildung wird seit rund 250 Millionen Jahren durch Hox-Gene unterdrückt. Speziell das Gen "Sex Combs Reduced" (SCR) verhindert das Wachstum und die Gestaltung der Flügel des ersten Brustsegments. Bei den Buckelzikaden, und nur bei ihnen, wird die Repression umgangen, so dass eine Innovation des Bauplans auf hohem taxonomischem Niveau möglich wurde. Sie trat, gemessen an der Stammesgeschichte der Fluginsekten, vor nicht allzu langer Zeit auf, nämlich vor weniger als 40 Millionen Jahren. Die Autoren konnten nachweisen, dass der Transkriptionsfaktor "Nubbin", der spezifisch die Flügelentwicklung steuert, bei der Entwicklung des Helms eine analoge Rolle spielt. (Ein Transkriptionsfaktor ist ein Protein, das die Aktivität einer DNA-Sequenz kontrolliert.)

Zwei Gene, von denen man weiß, dass sie die Ausbildung von Körperanhängen steuern, spielen auch bei der Entwicklung des Helms mit. Daher ist anzunehmen, dass dafür das gleiche Programm genutzt wird wie für die Flügelentwicklung. Warum SCR sie nicht mehr unterdrückt, konnten die Autoren bis zu einem gewissen Grad klären: Irgendwo entlang der Steuerkette downstream von SCR (d.h. dem SCR nachgeordnet) reagiert das Entwicklungsprogramm nicht mehr, vermutlich durch eine eher simple Veränderung eines Regulatorgens.

Damit bilden die Buckelzikaden ein Beispiel für eine Innovation des Bauplans, die durch den Umbau der Entwicklungssteuerung möglich wurde, und die zu einer erstaunliche Diversität der Formen führte. Seit 40 Millionen Jahren wird das Entwicklungspotenzial des wiedergewonnenen Körperteils sukzessive ausgelotet, indem die unterschiedlichsten Struktur- und Steuergene in die Entwicklungskaskade "eingeflickt" und auf ihre Auswirkung hin überprüft wurden. Warum diese Möglichkeit bei heutigen Insekten nur einmal realisiert wurde, ist offen. Die Autoren vermuten intrinsische Entwicklungszwänge, die gegen die Anlage des ersten Flügelpaars sprechen. Es könnte auch sein, dass solche Anlagen auftreten, aber einer starken Gegenselektion unterliegen.

Das Ergebnis belegt jedenfalls die Fruchtbarkeit der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) und passt nicht zur Vorstellung von einem speziellen, "intelligenten" Design der Lebewesen. Vielmehr offenbart sich aus entwicklungsgenetischer Sicht einmal mehr das Bild evolutionärer Flickschusterei ("tinkering"). Es zeugt von Entwicklungszwängen einer ungesteuerten evolutionären Ereigniskette, wonach bei Fluginsekten für das erste Thoraxsegment das genetische Programm der Flügelentwicklung zwar immer noch als "historisches Relikt" existiert, aber konstant unterdrückt wird.

Als Ergebnis von "Design" wäre diese Situation unverständlich, denn nur bei den Buckelzikaden wird das archaische Programm (sekundär wieder) genutzt. Und nur für diese Insekten hat sich dadurch ein neuer evolutionärer Entfaltungsraum eröffnet. Nicht mehr ausgeführte, aber weiter existierende und vermutlich für die Entwicklungssteuerung nötige Programme sind inzwischen vielfach bekannt. Ein eindrückliches Beispiel ist das Programm für Zahnanlagen bei Hühnern (HARRIS et al. 2006). Es gibt eine Hühnermutante, die talpid2-Hühner, bei denen das seit über 60 Millionen Jahren abgeschaltete und "verschüttete" Programm zur Zahnbildung wieder reaktiviert wird, in den Embryonen lassen sich reguläre Zahnanlagen nachweisen. Allerdings wurde, im Unterschied zu den Buckelzickaden, dieses Programm bei den Vögeln nie zum Ausgangspunkt einer evolutionären Innovation.

Literatur

HARRIS, M.P. et al. (2006) The development of archosaurian first-generation teeth in a chicken mutant. Current Biology 16, 371-377.

PRUD'HOMME, B. et al. (2011) Body plan innovation in treehoppers through the evolution of an extra wing-like appendage. Nature 473, 83-86.




Fußnoten

[1] Die ab dem mittleren Karbon fossil auftretenden Palaeodictyoptera (z.B. Stenodictya) wiesen neben zwei funktionalen Flügelpaaren ein Paar flügelähnliche Fortsätze des ersten Thoraxsegments auf, die als den Flügeln homolog angesehen werden. Die Insektengruppe starb im späten Perm aus.

Autor: Hansjörg Hemminger


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