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PDF-Version Philosophische Analyse Markus WIDENMEYER und die "Widerlegung" der EmergenzlehreBesprechung des Buches "Welt ohne Gott" - Teil 5In Kapitel 7.5 des Buchs Welt ohne Gott? setzt sich der evangelikale Christ Markus WIDENMEYER mit dem naturalistischen Begriff der Emergenz auseinander. Der Autor stößt sich vor allen Dingen daran, dass das Emergenzkonzept auf das Gehirn und die Entstehung des Geistes angewendet wird. Als Supranaturalist kritisiert er den Emergenzbegriff nicht nur, er vertritt darüber hinaus sogar den Anspruch, die Emergenzlehre widerlegt zu haben. In der vorliegenden Analyse widmen wir uns diesem Widerlegungsversuch und zeigen, dass er auf einer idealistischen Fehlinterpretation, das heißt auf einem schweren Kategorienfehler, beruht. Doch was bedeutet "Emergenz" überhaupt? Grundlagen des Emergenzkonzepts Leider gibt es in der Literatur keine einheitliche Definition des Begriffs Emergenz (HALLEY & WINKLER 2008). Manchmal wird Emergenz als selbstorganisiertes Entstehen von geordneten Strukturen aus Unordnung (Chaos) definiert und nichtlineare Rückkopplungen (Mechanismen der Selbstverstärkung) als formale Kriterien angeführt (KROHN & KÜPPERS 1992). Diese Definition ist jedoch sehr eng gefasst. Im Allgemeinen wird mit Emergenz die Tatsache umschrieben, dass Systeme mehr sind als die Summe ihrer Teile: Durch Wechselwirkung (Interaktion) der Bestandteile (bzw. Untersysteme) eines Systems treten qualitativ neue Eigenschaften auf, die keines der Teile besitzt. Um es mit Gerhard VOLLMER (2013) zu sagen: "Die Evolution hat nicht mit komplexen Systemen oder einem besonders komplizierten Supersystem begonnen, die nun allmählich zerfallen und dabei mehr und mehr Eigenschaften verlieren … Es ist genau umgekehrt: Die komplizierteren Systeme entstehen später und zeigen Eigenschaften, die keines der Teilsysteme je besaß. Dieses Auftreten neuer Systemeigenschaften nennen wir Emergenz."1) Hierzu einige klassische Beispiele:
Grob verallgemeinert beschreibt Emergenz den zwiebelschalenartigen Stufenbau der Materie, der auf jeder Organisationsebene neue Eigenschaften (kooperative Phänomene) hervorbringt, die auf einer elementareren Ebene noch nicht da waren. So gibt es auf der Stufe der Elementarteilchenphysik noch keine Chemie, auf der Ebene der Chemie noch nicht zwangsläufig Biologie und auf der biologischen Ebene nicht notwendigerweise schon Geist und Bewusstsein. Das Phänomen der Emergenz spielt also in allen Naturwissenschaften eine zentrale Rolle, es handelt sich um einen disziplinübergreifenden, ontologischen Begriff. Ja, das Emergenzkonzept ist für die Naturwissenschaften geradezu konstitutiv; Wissenschaftler verhalten sich ganz wie emergentistische Materialisten (BUNGE & MAHNER 2004, 54). Man kann zwischen einem synchronen und einem diachronen Aspekt der Emergenz unterscheiden: Das Konzept der synchronen Emergenz geht der Frage nach, welche Teile des Systems wie miteinander interagieren müssen, damit sich die emergenten Eigenschaften zeigen. Diachrone Emergenz meint dagegen die erstmalige, naturgeschichtliche Entstehung der betreffenden Systeme, sie hat also evolutionären Charakter. Ein Beispiel: Im Lauf der Keimesentwicklung entsteht aus einer befruchteten Eizelle ein Mensch mit einem hoch organisierten Gehirn, das des Denkens und der Selbsterkenntnis fähig ist. Da sowohl die Komponenten (Nervenzellen) des Gehirns als auch das Gehirn selbst relativ kurz nacheinander entstehen, es sich zudem um einen (beliebig oft) wiederholbaren Vorgang handelt, liegt ein Fall synchroner Emergenz vor. Diachrone Emergenz würde hingegen die Frage betreffen, wann und wie im Laufe der Primatenevolution erstmalig hochorganisierte Gehirne auftraten, die ihren Besitzern ein Bewusstsein vermittelten. Da sich Systeme aus einfacheren bilden, versuchen Naturwissenschaftler, die emergenten Eigenschaften mit denen seiner Teilsysteme zu erklären, sie methodologisch auf diese zu reduzieren. Diese evolutionär begründete Strategie erwies sich bislang als sehr erfolgreich, doch wo die Systeme besonders komplex sind, lässt der Erfolg auf sich warten. Deshalb verdienen die Probleme besondere Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den Materialisten steht der Naturalist also dem erkenntnistheoretischen Reduktionismus nahe, ohne unauflöslich an ihn gebunden zu sein. Thomas NAGEL (2013) etwa lehnt den Reduktionismus ab, wenn es sich um die Erklärung der Entstehung von Geist und Bewusstsein dreht; vielmehr möchte er Geist als eine Grundeigenschaft der Welt verstanden haben, die sich nicht auf einfachere, materielle Prinzipien zurückführen (reduzieren) lässt. Er argumentiert dabei in der Tradition des Anti-Emergentismus. Aus Sicht des Materialismus stellt der Materie-Geist-Dualismus jedoch eine Anomalie dar (MAHNER & BUNGE 2000, 198). Das wäre so als würde man "die Verdauung" als eine nicht reduzierbare Grundeigenschaft der Welt sehen, nicht als emergente Eigenschaft des Magen-Darm-Trakts. WIDENMEYERs missglückter Widerlegungsversuch Kurioserweise scheint der Emergenz-Begriff (insbesondere von Naturalismusgegnern) notorisch missverstanden zu werden. Oft wird behauptet, der Begriff sei inhaltsleer, ein Lückenfüller für das noch nicht Verstandene, dessen Daseinsberechtigung verschwinde, sobald die emergenten Eigenschaften aus den Eigenschaften der Teile des betreffenden Systems vorhergesagt (bzw. erklärt) worden seien. WIDENMEYER reiht sich in den Chor derer ein, die glauben, Emergenz sei lediglich eine schwammige, materialistische Worthülse: "Will man heute suggerieren, dass auf natürlichem Wege Ordnung von selbst entstünde, verwendet man oft Ausdrücke wie 'Emergenz', 'Selbstorganisation', 'Systemeigenschaften' und ähnliche. Das Problem ist, dass solche Begriffe naturwissenschaftlich nicht oder nur sehr künstlich definierbar sind und in der Regel in schillernder und unklarer Weise verwendet werden." (ebd., 138) Aber nicht nur das: Auf S. 177 behauptet er nichts weniger als den Nachweis der "Widerlegung der Emergenzlehre" geführt zu haben – wobei dieser Beweis noch nicht einmal fünf Zeilen in Anspruch nimmt. Wie sieht diese "Widerlegung" aus? Formal gleicht das Argument einer reductio ad absurdum: Das System V, bestehend aus den Einzelbestandteilen (x1, x2,…, xn) und der emergenten Eigenschaft E, wird formal in zwei Komponenten mit den Bestandteilen (x1, x2,…, xk) sowie (xk+1,…, xn) zerlegt, die für sich allein genommen die emergente Eigenschaft E nicht aufweisen. Durch einfaches Addieren der beiden Komponenten und der emergenten Eigenschaft E gelangt er dann zu der Gleichung: (1) V = (x1, x2,…, xk) + (xk+1,…, xn) + E Dies entspricht: (2) V = V + E Es ist unschwer zu erkennen, dass Gleichung (2) widersprüchlich (kontradiktorisch) ist, denn V kann nicht V plus etwas anderes sein. Folglich, so WIDENMEYER, müsse entweder E = 0 sein (es gibt keine Emergenz) oder E sei identisch mit V: "Es gibt hier nur zwei widerspruchsfreie Interpretationsmöglichkeiten: 1. E ist identisch mit V. Das Ganze wäre nicht mehr als die Summe aller seiner Bestandteile; es wäre einfach identisch mit seiner Summe, so wie alle zusammengesetzten physikalischen Gegenstände auch. Die entspräche der Identitätstheorie, die aber widerlegt ist… 2. E existiert nicht real. Die Gleichung hieße dann V = V + 0. Das wäre der eliminative Materialismus, der ebenfalls unhaltbar ist. Zusammen mit den Ergebnissen der beiden vorigen Abschnitte folgt also: Die naturalistische Sichtweise, dass das Geistige in irgendeiner Form eine Variante des Nichtgeistigen sei, ist unhaltbar." (ebd., 177f) Sollte der akademischen Philosophie die Inkonsistenz des Emergenzkonzepts etwa seit Jahrzehnten entgangen sein? Gleichung (1) behandelt die emergente Eigenschaft (E) wie eine Entität – etwas real Seiendes, autonom Existentes, das gleichsam additiv, wie die Zutat eines Kuchenteigs, dem System hinzugefügt werden kann oder muss. Diese ontologische Interpretation stellt aus Sicht des emergentistischen Materialismus nach BUNGE & MAHNER (2004) jedoch einen schweren Kategorienfehler dar, denn Eigenschaften sind keine Entitäten; man kann sie nicht wie Dinge behandeln (im Fachjargon: reifizieren) und sie somit auch nicht wie ein weiteres Ingrediens zu den Systemkomponenten addieren. Das heißt, emergente Eigenschaften lassen sich nur gedanklich von den Dingen abstrahieren, nicht aber physisch von Systemen trennen. Vielmehr gehen sie aus der Wechselwirkung zwischen den Bestandteilen des Systems hervor. Das Wesen der kausalen Interaktion der Komponenten (x1, x2,…, xk) und (xk+1,…, xn) wird also durch WIDENMEYERs Formalismus nicht berücksichtigt, die Natur der Emergenz durch die mathematische Operation der Addition nicht erfasst. Und er verkennt die ontologischen Voraussetzungen, unter denen seine Argumentation gültig wäre. Er argumentiert wie in dem Witz, in dem ein Physiker sagt, es reiche nicht aus, Kondensator und Spule parallel zu schalten, um einen Schwingkreis zu bilden, man müsse dem System erst noch "das Schwingen" beibringen (bzw. es mit selbiger Eigenschaft ausstatten). Oder: Mann und Frau könnten unmöglich ein neues Lebewesen hervorbringen, denn V= 1+1 = 2 und nicht 3. Formal mögen beide Aussagen korrekt sein, sie lassen aber den Aspekt der kausalen Wechselwirkung unberücksichtigt, wonach die Eigenschaften des "Schwingens" bzw. des "Schwangerseins" (S) scheinbar additiv zu den jeweiligen Systemen V (Schwingkreis einerseits, kopulierendes Paar andererseits) hinzutreten müssen: V = V + S. Erst dieser mathematische Trick erzeugt den logischen Widerspruch, der aber mit der Realität nichts zu tun hat. Mit derselben Logik könnte WIDENMEYER auch behaupten, dem Magendarmtrakt müsse additiv die Eigenschaft der "Verdauung" hinzugefügt werden, bevor dieser in der Lage sei, Nahrung in seine Bestandteile zu zerlegen. Dass "die Verdauung" formal bzw. gedanklich als Eigenschaft des Magendarmtrakts von selbigem abstrahiert werden kann, bedeutet keinesfalls, dass "die Verdauung" einen (autonomen) ontologischen Status hat und dem betreffenden System, wie eine weitere materielle Komponente, hinzugefügt werden kann. WIDENMEYERs Widerlegungsversuch beruht also auf einer idealistischen Fehlinterpretation des Emergenzbegriffs. Wenn die Entstehung von qualitativ Neuem eine Frage der kausalen Interaktion von Dingen in einem System ist, dann ist die Addition von Eigenschaften der falsche Weg, um sich dem Verständnis von Emergenz zu nähern. Es ist ganz klar ein Kategorienfehler, Systemeigenschaften wie real existente "Dinge" zu behandeln, die man addieren, subtrahieren und repräsentativ in ein System "hineinlegen" kann. Im Übrigen scheint WIDENMEYER völlig zu übersehen, dass "… Emergenz ja ein klares, beliebig oft wiederholbares Faktum ist. Widenmeyer stößt sich ja nur daran, dass das Emergenzkonzept auch auf das Gehirn und die Entstehung des Geistes angewendet wird. Wenn es aber keine Emergenz gibt, dann dürfte es sie auch nicht in Physik und Chemie geben bzw. Widenmeyer hätte sie auch dafür widerlegt." (MAHNER, pers. Mitteilung). Es gäbe also weder die Aromatizität des Benzols, noch die Leitfähigkeit von Metallen, noch Clusterbildung in der Festkörperphysik; es gäbe keinen elektrischen Schwingkreis, keine chemischen Oszillatoren, keine chemischen Verbindungen mit neuartigen Eigenschaften u.v.a. Nichts, bei dem kooperative Phänomene und Selbstorganisation eine Rolle spielen, wäre existent – und damit rund 90 Prozent aller Phänomene, mit denen sich die Naturwissenschaften beschäftigen. WIDENMEYER zufolge dürfte es sich bei solchen Phänomenen allerdings nicht um Beispiele von Emergenz handeln, denn er hängt der fragwürdigen Vorstellung an, dass Emergenz automatisch Nicht-Vorhersehbarkeit impliziere: "Selbst wenn das Emergenzkonzept logisch konsistent sein sollte, ist es ein weiterer Stachel im Fleisch des Naturalismus, der eigentlich eine durchgängige naturwissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt proklamiert. Denn wie der Emergenztheoretiker Stephan faktisch einräumt, wären emergente Entitäten prinzipiell unerklärbar." (ebd., 175) Falls dies der Emergenztheoretiker STEPHAN so behauptet haben sollte, so kann man als Naturalist schwerlich dafür in Haft genommen werden, was Vertreter anderer naturalistischer Denkrichtungen sagen. (Es gibt ebenso wenig den einen Naturalismus wie es "den" Supranaturalismus gibt.) Wie in den Teilen 1 und 2 unserer Besprechungsreihe festgestellt wurde, ist auch keineswegs zutreffend, dass "der" Naturalismus eine durchgängige (wissenschaftliche) Erklärbarkeit der Welt proklamiere. Wer behauptet, Emergenz meine per Definition das Auftreten von Unerklärbarem, Unableitbarem und Unvorhersehbarem, der muss sich von MAHNER & BUNGE (2000, 31-32) eines Besseren belehren lassen: "Emergenz wird … oft gleichgesetzt mit Unkenntnis des Mechanismus, der zur Bildung qualitativ neuer Systeme aus ihren Vorgängern führt. So wird behauptet, der Emergenzbegriff sei überflüssig, sobald die genaue Zusammensetzung und Struktur eines Systems bekannt ist. Doch erklärte Neuheit ist nicht weniger neu als unerklärte, und vorausgesagte Neuheit ist ontisch genauso neu wie nicht vorhergesagte oder gar unvorhersagbare Neuheit. Qualitative Neuheit bleibt ontisch qualitative Neuheit, ob wir sie erklären oder voraussagen können oder nicht. Emergenz ist etwas, das mit der realen Welt zu tun hat, nicht mit unserem Wissen von ihr …" Mit anderen Worten: Die Entstehung chemischer Elemente (durch Kernfusion), die Aromatizität des Benzols, die Bildung von Laser-Moden und "chemischen Uhren", die Entstehung von Planetensystemen sowie die Evolution von Lebewesen (einschließlich Bewusstsein) sind Prozesse, die gleichermaßen korrekt mit dem Begriff Emergenz umschreibbar sind. Literatur BUNGE, M. & MAHNER, M. (2004) Über die Natur der Dinge: Materialismus und Wissenschaft. S. Hirzel Verlag, Stuttgart. HALLEY, J.D. & WINKLER, D.A. (2008) Classification of emergence and its relation to self-organization Complexity 13, 10–15. KROHN, W. & KÜPPERS, G. (Hg., 1992) Emergenz: Die Entstehung von Ordnung. Organisation und Bedeutung. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt. MAHNER, M. & BUNGE, M. (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer-Verlag, Berlin. NAGEL, T. (2013) Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp-Verlag, Berlin. VOLLMER, G. (1992) Das Ganze und seine Teile. Holismus, Emergenz, Erklärung und Reduktion. In: DEPPERT, W. et al. (Hg.) Wissenschaftstheorien in der Medizin, Verlag de Gruyter, Berlin, 183–223. VOLLMER, G. (2013) Auf der Suche nach der Ordnung: Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild. 2. Auflage, S. Hirzel Verlag, Stuttgart, Kap. 5. WIDENMEYER, M. (2014) Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus. SCM Haenssler, Holzgerlingen. Fußnoten [1] Zur Emergenz vgl. auch VOLLMER (1992). Dort wird diskutiert, dass manche "Emergenz" anders definieren, insbesondere die Nichterklärbarkeit der Systemeigenschaften "von unten her" in die Definition einbeziehen, was VOLLMER zu Recht für inadäquat hält. Autor: Martin Neukamm |