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PDF-Version Philosophische Analyse Naturalismus und Evolutionäre ErkenntnistheorieSind Erkenntnis und Wahrheit Illusionen? - Besprechung: "Welt ohne Gott" - Teil 10Wenn, so WIDENMEYER in seinem Buch, der ontologische Naturalismus wahr wäre, wäre das Erlangen echter Erkenntnis unmöglich. Denn der Naturalist vertrete die Auffassung, nur Hirnprozesse bestimmten, was wir denken und wahrnehmen. Diese ausschließlich materiellen Vorgänge ließen sich manipulieren und seien logischen Zusammenhängen gegenüber "blind". Daher sei es aus naturalistischer Perspektive unmöglich zu erkennen, was real existiere, was wahr sei und was falsch. Da wir die Welt analysieren, Wissen schöpfen, argumentieren und abwägen, sei der Naturalismus kontraintuitiv. Naturalisten, die argumentieren und Wissenschaft betreiben, handelten im Widerspruch zu ihrer Metaphysik. Was ist dran an diesem Argument? Evolutionstheorie und Erkenntnisvermögen Betrachten wir WIDENMEYERs Ausführungen konkreter. Er bemerkt: "Wäre der Naturalismus wahr, dann hätten geistige Dinge wie Gedanken mit ihren logisch-semantischen Merkmalen keinen realen Einfluss darauf, dass ein Subjekt einen Gedanken als wohlbegründet und somit als wahr oder wahrscheinlich einschätzt. Genauso wären wir als geistige Subjekte rein passiv. Wir hätten nicht die Möglichkeit, aufgrund unserer Einsicht in die logisch-semantische Struktur eines Begründungszusammenhangs einen Gedanken als wohlbegründet zu akzeptieren, weil dieses Einsehen ein geistiger Vorgang ist. Mögliches Wissen könnte auf diese Weise also niemals auf der inneren Gültigkeit von Argumenten beruhen. Vielmehr wäre das, was in uns vorgeht und was wir für wahr halten, letzten Endes das ausschließliche Produkt äußerlicher, physikalischer, rein nichtgeistiger Faktoren. Und diese Faktoren sind unseren Gedanken und Überzeugungen mitsamt ihren Inhalten und somit irgendwelchen Begründungszusammenhängen gegenüber völlig blind …
Zunächst spricht WIDENMEYER etwas Wichtiges an. Bereits KANT wusste, dass wir die Dinge nicht erkennen wie sie sind. Vielmehr konstruiert unser Verstand die subjektive Welt nach seinen Gesetzen. Die Biologie hat dieses Paradigma weiter ausgebaut: Die Prinzipien, nach denen der Verstand arbeitet, fußen auf neurobiotischen Prozessen. Das Gehirn erzeugt ein Bild von der realen Welt, mit dessen Hilfe wir uns in der Realität bewähren müssen. Je nach Hirnphysiologie entspricht dieses Bild mal mehr und mal weniger einem Zerrbild. Davon zeugen optische Täuschungen, Irrtümer, Fehlschlüsse. Zudem schreiben wir Gegenständen laufend Qualitäten zu, die sie nicht haben: Dichotomien wie heiß oder kalt, hell oder dunkel, weich oder hart sind kognitive Bewertungsmaßstäbe. Sie sind Ausdruck jener Komfortzone, in der sich unser Gehirn "einrichtete" und aus dessen Blickwinkel es über die Welt urteilt. WIDENMEYER hat also in einem Punkt Recht: Aus naturalistischer Sicht hängen all unsere Wahrnehmungen, unser Denken und Wollen, unsere Argumente, Weltbilder und Einsichten von der (prinzipiell beliebig manipulierbaren) Struktur neuronaler "Schaltkreise" ab. Weisen sie "Defekte" auf, ist auch unser Denken defekt! Dennoch ist seine Sicht auf den Naturalismus unangemessen pessimistisch, wenn er behauptet: "Wir hätten [aus naturalistischer Sicht; MN] keinen Grund, von einer Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen und unseres Denkens auszugehen" (S. 54).
Das ist falsch, denn wie alle Organe, die auf ihre Adäquatheit hin "getestet" werden, sind Gehirne aus einem Millionen Jahre dauernden Prozess der Auslese und Anpassung an die reale Welt hervorgegangen. Folglich können wir erwarten, dass auch die Leistungen hochentwickelter Gehirne wie Erkennen, Verstehen und logisches Denken (wenigstens teilweise) zu unserer Welt passen (VOLLMER 2014, S. 37). Hirnstrukturen, die ihren Trägern eine realistischere Wahrnehmung, eine bessere Auffassungsgabe und einen schärferen Verstand bescherten, hatten einen klaren Überlebensvorteil. Solche, mit denen keine überlebensadäquate Wahrnehmung einherging, fielen durch das Raster. Der Evolutionsbiologie George Gaylord SIMPSON brachte dies mit seinem viel beachteten Bonmot zum Ausdruck: "Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und gehört dadurch nicht zu unseren Urahnen" (SIMPSON 1963, S. 84). Naturgemäß erstreckt sich der Passungscharakter unserer Wahrnehmungen "nicht nur auf die physischen, sondern auch auf die logischen Strukturen der Welt" (VOLLMER 1998, S. 103). Mit anderen Worten: Unsere evolutionäre Erfolgsgeschichte ist ein gutes Argument anzunehmen, dass ein Großteil unserer Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und bewährten Theorien wahrheitsnah ist. Entsprechend kann und wird der Naturalist (sofern er Realist ist) an bewährte Theorien den Anspruch approximativer Wahrheit stellen und adäquates Wissen schöpfen (MAHNER & BUNGE 2000, S. 125-131). Dies ist eine wesentliche Konsequenz der Evolutionären Erkenntnistheorie (EE). Dabei besagt sie auch, dass unser Erkenntnisvermögen beschränkt ist. Wissen ist nur teilweise wahr, menschliches Denken unvollkommen. So versagt der "gesunde Menschenverstand" bei der Aufgabe, sich die Raumzeit-Struktur der Quantenwelt anschaulich vorzustellen. Die Evolution versäumte es, unser Gehirn passend zu "verdrahten", weil derlei Fähigkeiten ihren Besitzern keinen Überlebensvorteil bescheren. Schlussendlich ist es die Aufgabe der Realwissenschaften, Theorien über die Wirklichkeit aufzustellen und den Wahrheitsgehalt dieser Theorien über Schlussfolgerungen und empirische Tests zu ermitteln. Dieser als wissenschaftliche "Methode" bekannten Operation geht die metaphysische Annahme voraus, dass empirische Adäquatheit und die wechselseitige Konsistenz von Theorien Indikatoren für faktische Wahrheit verkörpern. Der Erfolg der Realwissenschaften bestätigt diese Annahme indirekt – und damit die Kernaussage der EE hinsichtlich des Passungscharakters von Erkenntnis. Allerdings haben wissenschaftliche Argumente einen begrenzten Einfluss darauf, was wir für wahr halten. Evolutionär bedingt unterliegt unser Erkenntnisvermögen emotiver Beeinflussung. Wir sehen dies daran, dass obskure Lehren wie Astrologie, Homöopathie und Kreationismus erstaunlich beliebt sind. Und deren Anhänger sind oft überdurchschnittlich intelligent, sollten also in der Lage sein, die schlechte Beleglage ihrer Überzeugungen zu durchschauen. Warum sind sie es nicht? Weil bei der Beurteilung von Fakten, die unser Selbstbild berühren, kognitive Verzerrungen greifen, die verhindern, dass wir unliebsame Befunde unvoreingenommen bewerten. Kognitive Dissonanzen gestatten es, selbst hochgradig widerlegte Dogmen subjektiv konsistent zu vertreten: Oft wird die Meinung selbst dann nicht geändert, wenn die argumentative Situation aussichtslos ist. WIDENMEYER ist das beste Beispiel; sein Dogma von der 10.000 Jahre jungen Erde lässt sich nur gegen erdrückende Evidenzen vertreten, wodurch er die Definition von (faktischer) Wahrheit auf den Kopf stellt. Naturalismus und Wahrheit: Ist die EE widersprüchlich? Wie erörtert, können wir aus Sicht des Naturalismus von der Wahrheitsnähe adäquater Wahrnehmungen und Theorien ausgehen. Gewissheit haben wir aber nicht. Während sich die skeptischen Vertreter der EE darüber im Klaren sind, dass jedes Wissen prinzipiell und jederzeit scheitern kann (fehlbar ist), behauptet WIDENMEYER: "Erkenntnis ist grundsätzlich mehr als eine bloße Überzeugung oder das Haben von irgendwelchen Gedanken, sie hat etwas mit Wahrheit zu tun. Erkenntnisse sind wahre Überzeugungen, die wir haben" (S. 54). Diese Aussage ist problematisch, denn nichts garantiert uns Wahrheit. Wir können nicht einmal die philosophische These des Solipsismus widerlegen, wonach die komplette Welt eine Simulation des Gehirns ist. Zwar können wir gute Gründe gegen den Solipsismus vorbringen. Streng logisch widerlegen können wir ihn nicht. Begibt sich hier der Naturalist in einen "performativen Widerspruch", wie WIDENMEYER (S. 59) glaubt? Wie können wir approximative Wahrheit für unser Wissen beanspruchen und den Naturalismus argumentativ verteidigen, wenngleich wir einräumen, dass alles Wissen falsch sein könnte? Das ist kein Widerspruch. Indem wir uns von sicherem Wissen verabschieden und dem Begründungs-Prinzip hinwenden, vermeiden wir den performativen Widerspruch. Sind wahre Behauptungen jene, die sich durchsetzen? Kurioserweise scheint WIDENMEYER zu glauben, der EE zufolge müssten sich wahre Überzeugungen automatisch evolutionär durchsetzen: "Der Naturalismus wäre genau dann wahr, wenn diejenigen, die ihn vertreten, statistisch mehr durchsetzungsfähige Nachkommen hätten als Personen, die diese Theorie falsch finden. Es ist vielleicht mehr als eine Ironie, dass heute gerade in denjenigen Kulturen, in denen der Naturalismus einen besonders starken Einfluss hat, die Bevölkerung am stärksten schrumpft" (S. 57).
Die These, der Wahrheitsgehalt individueller Meinungen korreliere der EE zufolge mit dem Fortpflanzungserfolg derer, die sie vertreten, ist schlicht daneben. Genauso wenig hängt unsere Fortpflanzungsrate davon ab, ob wir die Relativitätstheorie akzeptieren oder glauben, Amerikaner seien kinderfressende Reptiloide, die die Welt bedrohen. Warum? Weil nur ein Bruchteil aller Denkinhalte überlebenswichtig ist; außerdem sind nicht Denkinhalte erblich, sondern die für das Denken verantwortlichen Strukturen. Die EE besagt, dass die Mechanismen des Denkens und Wahrnehmens im Lauf der Evolution optimiert wurden. Für individuelle Denkinhalte gilt das nicht zwangsläufig. Zwar haben hochevolvierte Gehirne die Fähigkeit, falsche Meinungen zu erkennen und zu verwerfen. Gleichwohl beeinflussen vor-rationale Faktoren die Meinungsbildung erheblich: Unsere Gedankenwelt ist ein Produkt unserer Sozialisation. Selbst universelle Merkmale der menschlichen Psyche, die sich evolutionär durchsetzten, sind kein Garant für Wahrheitsnähe. Ein Beispiel ist die Spiritualität des Menschen. Die Anlage für religiösen Glauben scheint tief in der menschlichen Natur verankert zu sein. Doch wer aus der physischen "Emergenz" der Religiosität auf ihren Wahrheitsgehalt schließt, überschreitet eine kategoriale Grenze. Der Animismus beispielsweise, wonach kleine Kinder unbelebte Gegenstände als lebendige Wesen wahrnehmen, ist uns angeboren. Erkenntnistheoretisch gesehen ist er bedeutungslos. Warum gibt es ihn? Sicher nicht, weil er wahre Eindrücke vermittelt. Offenbar wurde er huckepack mit anderen Denkstrukturen vererbt, nämlich mit einer Art vorgebahnter Mustererkennung und Sinnbildung: der überlebensnotwendigen Fähigkeit des Gehirns, Strukturen kognitiv zu ordnen und mit einem "Sinn" auszustatten – selbst wo keiner ist. So nimmt das Gehirn bei zeitlich zusammenhängenden Ereignissen oft ein Ursache-Wirkung-Verhältnis an, wo keines besteht, und deutet in Zufälle übersinnliche Absichten hinein, wo keine sind. Die Tendenz des Gehirns zu "überschießender" Mustererkennung und Sinnbildung zeigt sich in vielem: Wir interpretieren Gesichter in Schrankmöbel; wir ärgern uns über den "dämlichen" Stuhl, über den wir stolpern und betrachten ihn damit wie ein absichtsvoll handelndes Wesen; wir wähnen uns im Zentrum der Welt, wo kein Zentrum existiert; wir bedienen uns einer anthropomorphen Sprache mit telelogischer Ausdruckswese, wo es keine Teleologie gibt, usw. Nicht anders bei der Religion: Wir erfinden Weltenschöpfer und denken uns paternalistische Überfiguren aus, die uns (an-) leiten, behüten, Trost spenden. So gesehen hat Religion einen Überlebensvorteil: Sie hilft bei der Trauerbewältigung und stabilisiert die Psyche. Sie deshalb oder weil sie interkulturell auftritt für wahr zu halten, ist ein Fehlschluss. Fazit WIDENMEYERS These, das Erlangen echter Erkenntnis wäre dem Naturalismus zufolge unmöglich, ist falsch. Entgegen der traditionell christlichen Erkenntnislehre, die blind darauf vertrauen muss, dass der liebe Gott die Wahrheit von Erkenntnis garantiere, liefert die EE vernünftige Gründe für die (partielle) Wahrheit unseres Wissens. Sie liegen in der evolutionären Anpassung unseres Erkenntnisapparats an die Strukturen der Welt. Doch Wissen ist nur teilweise wahr, menschliches Denken unvollkommen. Der Hang zur Spiritualität beispielsweise hat sich nicht durchgesetzt, weil sich darin objektive Strukturen der Wirklichkeit wiederspiegelten. Vielmehr sind die ihm zugrunde liegenden Denkstrukturen der vorgebahnten Mustererkennung und Sinnbildung überlebensnotwendig. Das Gehirn neigt dazu, Ziele und Absichten auch in Ereignisse hinein zu interpretieren, wo keine sind. Literatur MAHNER, M. & BUNGE, M. (2000) Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer-Verlag, Berlin. SIMPSON, G. G. (1963) Biology and the nature of science. Science 139, S. 81–88. VOLLMER, G. (1998) Evolutionäre Erkenntnistheorie. 7. Auflage, Hirzel-Verlag, Stuttgart. VOLLMER, G. (2014) Zur Tragweite des Evolutionsgedankens in den Wissenschaften und in der Philosophie. In: NEUKAMM, M. (Hg.) Darwin heute. Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften. WBG, Darmstadt, S. 13–50. WIDENMEYER, M. (2014) Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus. SCM Haenssler-Verlag, Holzgerlingen. Autor: Martin Neukamm |