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Druck-Version Buchbesprechung Falkner: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in ErfahrungsaktenSchriftenreihe Biophilosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2020Mit diesem Buch wollen die FALKNERs eine neue Definition des Lebens und eine neue Theorie der Biologie, einschließlich der Evolution, unterbreiten. Damit stecken sich die Autoren ein hohes Ziel. Die erste Überraschung in Gestalt eines Zitats des Mathematikers und Philosophen Alfred North WHITEHEAD, 1861–1947 (!), erwartet den Leser bereits im Klappentext: "Eine durchgängige Evolutionsphilosophie ist unvereinbar mit Materialismus ... Evolution wird nach der materialistischen Theorie auf ein anderes Wort für die Beschreibung von Veränderungen in den äußeren Relationen zwischen Materieteilchen reduziert. Hier gibt es nichts, was der Evolution fähig wäre, weil eine Menge von äußeren Relationen so gut wie jede andere ist. Möglich ist allein eine nicht zweckgerichtete und nicht fortschreitende Veränderung. ..." Dieses Bekenntnis offenbart ein erschreckendes Unverständnis für Evolution, selbst für die damalige Zeit. Die zweite Überraschung bietet das Literaturverzeichnis, in dem dutzendfach (vor allem idealistische) Philosophen, bis hin zu PLATON und HEGEL, auftauchen sowie seit Jahrzehnten veralte biologische Publikationen bis hin zu E. HAECKEL aus den Jahr 1929. Aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen sind Mangelware, bis auf einige Publikationen der Autoren selbst. Die dritte Überraschung ist die durchgängig falsche oder zumindest irre führende Verwendung von Fachbegriffen: Hier und da (z. B. auf S. 173) wird Gen mit Allel verwechselt. Die Molekularbiologie ist mitnichten "aus einer Kombination der Mendelschen Genetik mit der Theorie DARWINs ... hervorgegangen" (S. 179). Biologie folgt keinem "mechanistischen Denkschema" (quer durchs Buch, zuerst S. 11) und ist auch nicht "physikalistisch" (S. 23 u. a.), sondern kausalanalytisch wie jede naturwissenschaftliche Disziplin. Die aktuelle Evolutionstheorie ist nicht "neodarwinistisch" (S. 11 u. a.), die Erklärungsschemata der Biologie sind nicht "positivistisch" (S. 23 u. a.). Tatsächlich arbeitet die Biologie sowohl nach der empirisch-induktiven als auch nach der hypothetisch-deduktiven Methodologie, die in allen Naturwissenschaften Anwendung findet. Wesen, Struktur und Logik der Naturwissenschaften werden auf bestürzende Weise ignoriert; so als hätte es seit J. O. DE LAT METTRIE und seinem Werk L’Homme-Machine (1748) keinen Erkenntnisfortschritt gegeben. Was hat das Buch als Alternativen zur "Standard-Biologie" zu bieten? Die Autoren haben nach eigener Sicht "... die energetischen Grundlagen der physiologischen Anpassung mit Hilfe der irreversiblen Thermodynamik studiert. [Sie] fanden, dass dieser Prozess ausgelöst wird, wenn eine Milieuänderung die Funktionsharmonie eines Fließgleichgewichts des Stoffwechsels beeinträchtigt. Im Fließgleichgewicht wird die jeweils vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet, und die im Stoffwechsel erzeugten Strukturelemente der Zelle gewährleisten die Aufrechterhaltung der Erscheinungsform des Organismus. Eine Störung des Fließgleichgewichts verursacht daher eine Deformation der Erscheinungsform" (S.12). Soso, aha! Mal abgesehen von der gestelzten Sprache: Die Energiebilanz der natürlichen Photosynthese von ca. 20% ist also "optimal"? Und der massenhafte Fehleinbau von O2 statt CO2 durch die RUBISCO im Rahmen der Photorespiration wird ebenfalls als optimal eingestuft? Die FALKNERs wollen den geistigen [sic!] Aspekt des Lebendigen im Stoffwechsel auffinden (S.13), sie sehen "Selbstgestaltungsakte" des Lebendigen am Werk, geleitet durch ein "Zellgedächtnis" und ein "Artgedächtnis" (quer durchs Buch, zuerst S.14/15), sowie "intra- und interorganismische Spannungsfelder" (zuerst auf S. 30), was eine "öko-physiologische Behandlung der gegenseitigen Beeinflussung der biozönotischen und organismischen Spannungen" erlaube. Wie kommen die Autoren zu solchen Ideen? Ausgangspunkt sind ihre Untersuchungen am Phosphat-Stoffwechsels von Cyanobakterien, den sie in Kapitel 3 vorstellen. Kurz gesagt stellten die Autoren fest, dass die unmittelbare Vorgeschichte einer Cyanobakterien-Kultur, also die Phosphat-Konzentrationen der letzten Tage, Einfluss auf den aktuellen Phosphat-Stoffwechsel haben. Nicht überraschend, ist doch längst kausalanalytisch aufgeklärt, über welche Mechanismen (gemeint sind kausale Wirkungsketten) sich Lebewesen und ihre Physiologie im Rahmen ihrer genetisch festgelegten Möglichkeiten auf die jeweils aktuellen Gegebenheiten einstellen. Zwar legen die Autoren ausführlich Kinetiken dar, versäumen aber das Wesentliche: Wenn man physiologischen Anpassungsvorgängen auf den Grund gehen will, muss man Änderungen im Transkriptom, im Proteom, in Protein-Modifikationen und ggf. im Metabolom untersuchen. Das haben die Autoren jedoch nicht einmal ansatzweise versucht. Honi soit qui mal y pense. Um nur einmal kurz anzureißen, was in der Biologie wirklich gedacht wird: Organismen sind autopoietische (aktiv-autoreproduktive) Systeme, deren Entwicklung, Selbsterhaltung und Adaptivität in Modellen dargestellt und untersucht werden können: Es gibt Theorien, welche der Selbstorganisation komplexer Systeme beschreiben usw. Die Autoren ignorieren diese Theorieentwicklung, oder sie kennen sie gar nicht; stattdessen weichen sie auf außerwissenschaftliche Vorstellungen aus, die man nicht nachvollziehen kann. Und so erfahren wir staunend (quer durchs Buch, zuerst auf S. 23), dass die Ursache für einen biologischen Prozess in der Zukunft liegen kann: Die Ursache für den gestern abgelaufenen biologischen Prozess kann also ein morgiges Ereignis sein. Dies gelte auch für die Veränderung der Genexpression, deren Wirkung ja auch in der Zukunft läge (S. 23). Man kommt aus der Sprachlosigkeit nicht mehr heraus; am Beispiel das Lac-Operons ist es bereits Abiturwissen Bio-LK, warum dies nicht so ist, und warum hier "Standard-Kausalität" gilt. Laut den FALKNERs beruhe auch die Embryogenese nicht auf "Entwicklungsprogrammen" (gemeint sind wohl die ontogenetischen Prozesse, welche die Embryogenese steuern). Sie erklären dies stattdessen "mit der Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution in den verschiedenen Etappen der der organismischen Entwicklung unter Einbeziehung der logischen Entfaltung von Funktionsharmonien". Unter anderem, weil "die lineare Anordnung von Nukleotiden auf der DNS" nicht die "dreidimensionale Gestalt eines Lebewesens" hervorbringen könne (S. 37, auch S.180/81). Wenn das unmöglich ist, dann müsste es auch unmöglich sein, zwei- und dreidimensionale Objekte in Dateien mit linearen Bitabfolgen zu kodieren. Die ontogenetischen Selbstorganisations-Prozesse sind mittlerweile gut verstanden (wenngleich eine vollständige Beschreibung bis in die letzten Details noch lange nicht erreicht ist). Klar ist aber längst, dass hier keine ominösen, metaphysisch-idealistischen "Entfaltung von Funktionsharmonien" am Werke sind. All diese Prozesse lassen sich streng mechanismisch (i.S.v. kausalanalytisch) beschreiben, und auch deren Entstehung lässt sich zumindest prinzipiell evolutiv erklären. Nun behaupten die Autoren, schon die ersten Lebewesen seien "in einer Wiederholung der kosmischen Selbstkonstitutionsakten" entstanden (S. 39); dies seien "auf ein Endziel gerichtete Prozesse" gewesen (S. 40). Dies lasse sich "nicht mechanistisch beschreiben, weil auch hier ein zukünftiger Zustand die Ursache für die Ausrichtung vorheriger Prozesse" sei. Das ist ein grobes Missverständnis: Ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Prozess hat sich evolutiv durchgesetzt, weil es bzw. er seinem Besitzer einen Vorteil brachte, und nicht, weil ein Ereignis, das später eintritt, gleichsam rückwärts in die Vergangenheit hineinwirkte bzw. durch das frühere Ereignis vorweggenommen würde. Auf Seite 41 behaupten die FALKNERs, für die "irreversible Natur biologischer Prozesse" gebe es ebenfalls "keine mechanistische Erklärung" (S. 41). Das stimmt, denn dies erklärt sich – völlig befriedigend – thermodynamisch und nicht mechanisch oder mechanistisch: Das ist Biologie-Wissen höherer Semester. Kapitel 2 beginnt mit der Behauptung, die molekularbiologische Methodik habe den Begriff des Lebens aus der Biologie eliminiert – da muss ich mich als Molekularbiologe offenbar fragen, was ich denn wohl in Wahrheit tue und womit ich mich tatsächlich befasse... Man kann all diese Behauptung eigentlich nur so verstehen, dass die Autoren von vornherein "Leben" nicht als eine Eigenschaftsbeschreibung bestimmter natürlicher Prozesse verstehen (und somit nicht als empirisch-wissenschaftlich erfassbaren Begriff), sondern als eine eigene, immaterielle Substanz im philosophischen Sinn. Die gibt es in der Tat in der Naturwissenschaft nicht und kann es auch nicht geben – jedenfalls nicht in dieser Welt, in der wir leben. Wenn die Autoren dann behaupten, in organismischen Systemen bestehe eine innere Beziehung zwischen physiologischen Teilprozessen, die mit biochemischen und biophysikalischen Methoden nicht erkannt werden können (S. 50), stattdessen gebe es in der Physiologie ein "ideelles Regulativ" (S.58), verlassen sie endgültig die Biologie bzw. die Naturwissenschaften. Und sucht man klare, eindeutige Definitionen für die Unmenge an metaphorischen Begriffen, die im Buch verwendet werden, so sucht man vergebens. Das alles ist keine Naturwissenschaft, es ist Vitalismus und Esoterik in Reinform. Interessant ist auch die Nähe zur Postmoderne; hierzu kann man das Buch "Eleganter Unsinn" von Alan SOKAL und Jean BRICMONT empfehlen: Die Parallelen sind frappant.1) Beim Thema Evolution setzt sich der fragwürdige Diskurs nahtlos fort: Organismen "bewerten" aktiv ihre Umgebung (S.157ff), verfolgen dabei eigene "Intentionen" (S.158ff), und zwar "freiwillig" und "reflektiert" (S.158). Klartext: Arten evolvieren, weil sie es wollen und gezielt kreativ planen. Die Autoren geben sich größte Mühe, in Bildern und metaphorischer Sprache aufzuzeigen, dass die Standard-Evolutionstheorie eine "Höherentwicklung" der Organismen nicht erklären könne. Doch die Grundzüge finden sich bereits in The Emergence of Evolutionary Novelties (Ernst MAYR, 1959), heutzutage ausformuliert im Theoriengebäude der EvoDevo. All dies erwähnen die FALKNERs mit keiner Silbe. Das angeblich ungelöste Rätsel, warum die Mendelsche Genetik die Vererbung artspezifischer Erscheinungsform nicht erklären könne, liegt schlichtweg und unspektakulär daran, dass sie über 150 Jahre alt ist. Auch der Vergleich des "genetischen Programms" mit technischer Informationsübertragung ist verfehlt, weil offenbar nicht begriffen wird, dass sich einige Aspekte vergleichen und übertragen lassen, aber eben nicht alle. Wenn man Kreationismus definiert als "Ablehnung einer natürlich erklärbaren Evolution zugunsten von supra-/paranormalen, mit empirischer Wissenschaft nicht fassbaren Wirkfaktoren", so handelt es sich hier nicht nur um esoterisches Gedankengut, sondern um Ideen, die ebenso nahe am Kreationismus liegen wie Intelligent Design. Genau darum dürfte dieses Buch in einem philosophischen Verlag herausgekommen sein und nicht als Fachbuch: Es hätte das Fachlektorat nicht überstanden. (Wer diese Einschätzung für überzogen hält, kann sich an dieser Stelle ein eigenes Bild machen.) Der sperrig-aufgeblähte, mit schlecht oder gar nicht definierten Worthülsen angefüllte und daher nur sehr schwer verständliche Sprachstil durchzieht den größten Teil des Buchs. Daher wird der Schaden bzw. die Verwirrung, den es anrichten wird, gering bleiben. Allerdings ist zu erwarten, dass es als Zitate-Steinbruch von Esoterikern und Kreationisten (i.e.S.) ausgeschlachtet werden wird. P.S.: Ein Proponent der FALKNERschen Ideen argumentierte mir gegenüber, dem Autor sei ja schließlich für dieses sein Werk von der Französischen Akademie der Wissenschaften der Prix Montyon verliehen worden. Dies ist inkorrekt. Dieser Preis (der im Übrigen auf der Seite der Akademie nicht mehr aufzufinden ist) wurde G.G. FALKNER verliehen – wie mir auf Nachfrage mitgeteilt wurde – für seine Untersuchungen zur Phosphatspeicherung und -metabolisierung in Cyanobakterien. Fußnoten: Autor: Andreas Beyer |