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PDF-Version Buchbesprechung Michael BRANDT (2020): Vergessene ArchäologieBesprechung der Kapitel 21 und 22 über Eolithen und Steinwerkzeuge von PrimatenEolithen sind Bruchstücke von Millionen Jahre alten Steinen, die manchmal von primitiven, altsteinzeitlichen Werkzeugen kaum unterscheidbar sind. Michael Brandt will in seinem Buch 'Vergessene Archäologie' beweisen, dass solche Steine menschliche Artefakte seien. Warum dieser Versuch fehlgeht, erläutern wir in der soeben verlinkten Buchbesprechung.1) Dort werden die neu hinzu gekommenen Kapitel 21 und 22 nicht betrachtet. Die Besprechung ist problematisch, weil BRANDT auf der einen Seite ethologische und paläontologische Ergebnisse in der wissenschaftlich gängigen Form referiert. Auf der anderen Seite interpretiert er sie aus seiner kreationistischen Sicht, die er aber nicht erläutert. Dadurch ist für Leserinnen und Leser, die nicht mit den Publikationen der Studiengemeinschaft WORT UND WISSEN vertraut sind, kaum verständlich, worauf der Autor hinauswill. Unsere Besprechung muss daher zunächst den Hintergrund erörtern, vor dem BRANDT argumentiert. Titelbild: Der Zwergschimpanse "Kanzi" ist in der Lage, ausgeklügelte sequentielle Handlungen auszuführen und einfache Steinwerkzeuge herzustellen. Bildquelle: Elizabeth Rubert-Pugh/ Universität Haifa. Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Was besagt die Weltanschauung des Autors? BRANDT leugnet, dass sich der Mensch aus vormenschlichen Formen (Hominini)2) entwickelte. Aus seiner Sicht wurden verschiedene "Affen-Grundtypen" und ein "Grundtyp Mensch" vor einigen tausend Jahren separat erschaffen.3) Die fossilen Arten von Menschen und Vormenschen muss er deshalb auf diese Grundtypen aufteilen. Die Frage, wie und wo sich die teils sehr verschiedenen Arten innerhalb des jeweiligen "Grundtyps" in ein paar tausend Jahren entwickelten, kann BRANDT nicht seriös beantworten; sie bleibt hier außer Acht. Jedenfalls möchte er die sog. "Südaffen" (Australopithecinen) sowie die ersten Vertreter der Gattung Homo (Homo habilis, H. rudolfensis und verwandte Formen) dem "Grundtyp Affe" zuschlagen. Der weiter entwickelte H. erectus soll dagegen zum "Grundtyp Mensch" gehören; ebenso die H. sapiens nahestehenden Formen H. heidelbergensis, H. neanderthalensis etc. Diese binäre Aufteilung wird allerdings durch den Fossilbericht infrage gestellt: H. erectus streut zeitlich und räumlich stark und repräsentiert keine einheitliche Population, sondern einen "Busch" von Evolutionslinien. Sie reichen von den Vorfahren des späten H. heidelbergensis bis zu frühen Vertretern, die etwa in Dmanissi (Georgien) gefunden wurden und H. habilis ähneln. Sie werden manchmal als H. ergaster gesondert benannt. Die frühesten Homo-Vertreter (H. habilis, H. rudolfensis etc.) stellen wiederum Zwischenformen dar, die von den Australopithecinen zur Gattung Homo vermitteln. Eine ähnlich kontinuierliche Evolution lässt sich für den Werkzeuggebrauch in der Abstammungslinie zum Menschen belegen. BRANDT muss das Vorhandensein solcher Zwischenformen (connecting links) leugnen und zu begründen versuchen, dass nur Angehörige des "Grundtyps Mensch" Steinwerkzeuge produziert hätten. Denn nur, falls die Eolithen ausschließlich menschliche Artefakte wären, wäre belegt, dass es bereits Menschen gab, lange bevor sie sich nach wissenschaftlicher Erkenntnis evolutionär entwickelten: die heutige Sicht auf die Erdgeschichte und Evolution wäre falsch. Der Kurzzeit-Kreationismus wäre damit zwar nicht bewiesen, doch die Evolutionstheorie müsste grundlegend revidiert werden. Darauf kommt es BRANDT offensichtlich an. Von Primaten, Menschen und SteinwerkzeugenIn den erdgeschichtlichen Epochen, in denen Eolithen nachgewiesen sind, existierten bereits Affen (Primates), Menschenaffen (Hominidae) und Vormenschen (frühe Hominini). Deshalb muss BRANDT auszuschließen versuchen, dass diese Primaten Steinartefakte hinterließen. Andernfalls würden die Eolithen auch dann zum wissenschaftlichen Bild von der Evolution des Menschen passen, falls sie doch Artefakte wären. Deshalb befasst sich Kapitel 21 mit der Werkzeugherstellung von heutigen Primaten, Kapitel 22 mit fossilen Steinwerkzeugen. Beide Kapitel hängen wissenschaftlich in der Luft, weil nicht überzeugend belegt ist, dass die Eolithen überhaupt Artefakte sind und nicht Naturprodukte (Geofakte). Die Evolution der Affen im weiteren Sinn (Primates) beginnt im Eozän und Oligozän vor 56 bis 23 Mio. Jahren. Die Geschichte der Altweltaffen (Catarrhini) reicht bis in das frühe Miozän (23 bis 5,3 Mio. Jahre) zurück. Vor mindestens 13 Mio. Jahren erschienen Menschenaffen (Hominidae). Vor 7 bis 5,5 Mio. Jahren wiederum trennte sich innerhalb der Hominidae die Evolutionslinie zum Menschen (Hominini) von der zu den Schimpansen und Bonobos. Erdgeschichtlich gesehen könnten also sowohl frühe Primaten als auch Altweltaffen und Menschenaffen, bis hin zu den frühesten Vormenschen, Eolithen hinterlassen haben. Um diese Möglichkeit auszuschließen, stellt BRANDT in Kap. 21 die Erzeugnisse von Bonobos und Kapuzineraffen frühen Steinwerkzeugen gegenüber. Im Ergebnis sind die fossilen Werkzeuge fortschrittlicher als die Erzeugnisse rezenter Affen. Ein wichtiger Unterschied ist, dass die scharfkantigen Abschläge, die manche Affen (nach Anleitung) im Experiment erzeugen, von einigen Individuen zwar sinnvoll benutzt werden. Sie werden aber nie weiterbearbeitet (retuschiert), um etwa Kanten zu begradigen oder den Abschlag dort abzurunden, wo er mit der Hand gehalten wird. In der Tat benutzen Affen von sich aus, ohne menschliche Anleitung, nur selten verschiedene Werkzeuge nacheinander. Nie wird ein bereits vorgefertigtes Werkzeug benutzt, um ein anderes herzustellen oder zu verbessern. Abschläge von Steinen entstehen eher zufällig, und sie werden nicht nachträglich bearbeitet. Dagegen ist selbst die als Modus 1 bezeichnete Oldowan-Technik bereits kumulativ, d. h. sie erfordert mehrere Bearbeitungsschritte mit vorbereitetem Material.4) Da die besten der von BRANDT vorgestellten Eolithen stets sekundäre Veränderungen aufweisen, die von absichtlichen Retuschen schwer zu unterscheiden sind (s. unsere oben verlinkte Rezension) schließt er, dass sie nicht von Vertretern des "Grundtyps Affe" stammen könnten – weder von den "Südaffen" noch von H. habilis und verwandten Formen. Dieser Schluss ist nicht jedoch stichhaltig. Zum einen stimmt die Zeitachse nicht: Die ältesten Oldowan-Werkzeuge sind 2,6 Mio. Jahre alt (Gona, Äthiopien), die jüngsten rund 1,5 Mio. Jahre (Konso und Kokiselei 5, Afrika). Bereits vor 1,7 Mio. Jahren traten Werkzeuge des Modus 2 (Acheuléen) in Erscheinung. Da das bisher älteste bekannte Fossil von H. erectus (Drimolen, Südafrika) auf ein Alter von 1,95 bis 2,04 Mio. Jahren datiert wird, klafft eine Lücke von mehr als einer halben Mio. Jahre zu den ältesten Modus-1-Werkzeugen. Deshalb wird allgemein angenommen, dass sie H. habilis oder verwandte Formen erzeugten, die BRANDT als Affen betrachtet. Tatsächlich ist die Lücke noch größer, wenn man auch Werkzeuge des sogenannten Modus 0, etwa Lomekwi 3 (LOM3), Afrika berücksichtigt, die 3,3 Mio. Jahre zurückreichen, und die wahrscheinlich von Australopithecinen erzeugt wurden (s. Abb. 1). Abb. 1 Stein-Werkzeuge verschiedener archäologischer Kulturen. A: 3,3 Mio. Jahre alter In-situ-Kern (LOM3-2011-l16-3) mit Abschlag (LOM3-2011 surf NW7). Die Artefakt-Natur dieses primitiven Geräts ("Modus 0") konnte durch Re-Fitting gesichert werden. Ferner ist die Fundstelle mit A. afarensis assoziiert. Quelle: SciNews, "World's Oldest Stone Tools Predate Humans". B: 1,7 Mio. Jahre alter, beidseitig behauener Proto-Faustkeil der Oldowan-Kultur ("Modus 1"). Quelle: Wikipedia, gemeinfrei. C: Etwa 300.000 bis 500.000 Jahre alter, bereits recht sorgfältig hergestellter Faustkeil aus dem Acheuléen ("Modus 2"). Quelle: Didier Descouens, Biface Cintegabelle MHNT PRE 2009.0.201.1 V2.fond, Bildausschnitt, CC BY-SA 3.0. D: Hochentwickelte Dalton-Pfeilspitze, ca. 10.000 Jahre alt. Quelle: mj0007/Depositphotos.com. Eigentlich bliebe BRANDT aufgrund des Fossilberichts nichts anderes übrig, als die Artefakte der Modi 0 und 1 großenteils Formen zuzuordnen, die er als Affen deklariert, auch weil offen ist, ob der Unterschied zwischen den experimentellen Erzeugnissen von Affen und den frühesten fossilen Steinwerkzeugen wirklich eindeutig ist. Das ist zumindest für die Werkzeuge des Modus 0 fraglich; auch die meisten Oldowan-Werkzeuge weisen keine Retuschen auf. Doch die bloße Möglichkeit, dass sie von "Affen" (sprich: Australopithecinen und H. habilis) stammen könnten, würde BRANDTs Argument gegen die Evolutionstheorie schwächen. Dann wäre zu retuschierten Abschlägen, die wie die von BRANDT präsentierten Eolithen aussehen, nur ein kleiner Schritt. In der Tat gibt es diesen Schritt: Einige Abschläge der Oldowan-Kultur zeigen Retuschen, etwa ein Nachschärfen oder zweiseitig bearbeitete Kerne. Sie werden in der Fachliteratur als "fortschrittliches Oldowan" bezeichnet5) und stellen einen Übergang zu Modus 2 dar. Damit gibt es ein evolutionäres Kontinuum von der Werkzeugkultur heutiger Affen und Menschenaffen über die primitivsten fossilen Steinwerkzeuge zu der Werkzeugkultur von H. erectus. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Herstellung und Nutzung von Steinwerkzeugen in der Evolution der Hominini lange vor dem Auftreten der Formen einsetzten, die BRANDT als Menschen betrachtet. Schneiden, Hämmern, Werkeln BRANDT versucht seine Hypothese zu stützen, indem er argumentiert, die Vertreter des "Grundtyps Affe" (etwa die Australopithecinen) seien anders als der "Grundtyp Mensch" keine aktiven Jäger gewesen. Steinwerkzeuge würden nur in einer Jagdgesellschaft Sinn ergeben, etwa um erlegte Tiere zu häuten oder ihr Fleisch bzw. Fell in Stücke zu schneiden. Kurz: "Frühmenschen brauchten Steinwerkzeuge zum Überleben". Dagegen sei unklar, wofür "nichtmenschliche Homininen wie Australopithecus afarensis Steinwerkzeuge in großer Zahl hätten verwenden können" (S. 479). Dieses Argument ist nicht einmal oberflächlich stichhaltig. Zwar ist umstritten, welchen Gebrauch etwa die Erzeuger der Oldowan-Werkzeuge von ihnen machten. Einige Experten meinen, dass die meisten Funde, die nicht scharfkantige Abschläge sind, Rest- und Abfallprodukte darstellen, und dass nur die scharfen Schneidewerkzeuge benutzt wurden. Andere sind der Ansicht, dass die schwereren Produkte als Axt- und Hammersteine Verwendung fanden (heavy chopping tools). Aber selbst, wenn die erste Ansicht zuträfe, hätten schneidende Werkzeuge zur Verarbeitung von pflanzlicher Nahrung dienen können. Die besteht nicht nur aus Früchten und Nüssen, sondern auch aus Wurzeln, Stängeln mit Markinhalt usw. Ferner waren die Australopithecinen und H. habilis zwar keine Großwildjäger, dürften aber kleinere Tiere gejagt haben. Sogar Schimpansen jagen regelmäßig kleine Säuger. Auch die Kadaver von Hasen und Hörnchen lassen sich mit scharfen Klingen besser verarbeiten. Schließlich waren diese Arten sehr wahrscheinlich Resteverwerter der Beute großer Prädatoren, und dazu waren nicht nur schneidende Werkzeuge, sondern Axtsteine nötig. Brisanterweise wurden in Dikika (Äthiopien) fossile Knochen gefunden, die Schnittmarken von Steinwerkzeugen tragen. Obwohl sie rund 3,4 Mio. Jahre alt und mit A. afarensis assoziiert sind,6) vertritt BRANDT die kontrafaktische Spekulation, die Schnittmarken gingen in Wahrheit auf Frühmenschen zurück. Damit verlässt er den Boden der Wissenschaft, denn in den darauffolgenden 1,5 Mio. Jahren ist weit und breit kein Frühmensch in Sicht, der die Schnittmarken hätte anbringen können. Weiterhin dienen - was sehr wichtig ist – Steinwerkzeuge zur Herstellung von Holz- und Knochenwerkzeugen, zum Beispiel von Grabstöcken. Diese erhalten sich, anders als Steinwerkzeuge, kaum je fossil. Die Abnutzungsspuren an den Kanten der Oldowan-Werkzeuge stimmen mit einer solchen Nutzung überein.7) BRANDTs Argument fällt deshalb in sich zusammen, sobald man nicht nur seine Auswahl von Daten berücksichtigt, sondern das gesamte Bild betrachtet. Vor allem ist kaum einzusehen, warum Kapuzineraffen und Schimpansen bereits einen evolutionären Vorteil durch ihre Werkzeugkultur haben sollten, die frühen Hominini aber nicht, bevor sie zu aktiven Jägern wurden. Im Gegenteil müssen wir schließen, dass selbst die Werkzeugkulturen der Modi 0 und 1 einen immensen Evolutionsvorteil darstellten und die Evolution bis hin zu H. sapiens maßgeblich mitprägten. Die Entwicklung zum Homo faber begann bereits, als sich die Linie hin zum Menschen von der zu den heutigen Menschenaffen trennte, oder sogar noch früher. Der letzte gemeinsame Vorfahre Weil dies so ist, sind weder Bonobos (Gattung Pan) noch Kapuzineraffen (Neuweltaffen der Gattung Cebus) hinreichende Modelle für das Verhalten derjenigen Arten, die an den Anfang der Evolution zu Homo oder in dessen Nähe gehören. Gorillas und Schimpansen stehen ihrem gemeinsamen Vorfahren mit dem Menschen nicht näher als wir selbst, sondern sind seine hochgradig abgeleiteten Nachkommen. Zum Beispiel ist es so gut wie sicher, dass dieser gemeinsame Ahne (und seine Vorfahren) sich nicht auf allen Vieren im Knöchelgang bewegten wie heutige Menschenaffen. Der früheste Hominine, von dem ein aussagekräftiges Körperskelett vorliegt, ist Ardipithecus (ca. 4,4 Mio. Jahre alt). Diese Spezies konnte aufrecht gehen, und die Finger der Hand waren gegeneinander beweglicher als bei heutigen Menschenaffen.8) Der typisch menschliche Präzisionsgriff zwischen Daumen und Zeigefinger entwickelte sich also wohl recht früh und war für die Werkzeugherstellung wichtig. Dass bereits die Australopithecinen sich ständig und über lange Distanzen aufrecht bewegten und damit ihre Hände für andere Funktionen frei hatten, wird durch ihr Körperskelett und durch fossile Fußspuren belegt. Diejenigen von Laetoli sind immerhin 3,7 Millionen Jahre alt. Auch Ardipithecus ging, wie erwähnt, schon eine Million Jahre früher mindestens fakultativ aufrecht. Von den europäischen Menschenaffen (oder Vormenschen) Graecopithecus (7 Mio. Jahre alt) und Ouranopithecus (10 bis 7 Mio. Jahre alt) gibt es nur Schädelfunde; von den etwas jüngeren, afrikanischen Fossilien Sahelanthropus und Orrorin jedoch Fragmente der Extremitäten. Darunter ist ein Daumenknochen, der Orrorin zugeschrieben wird: Dessen Daumen war opponierbar. Wie diese frühen Formen sich genau fortbewegten und was sie mit den Händen taten oder auch nicht, ist offen. Dass sie nicht mehr konnten als Bonobos und Kapuzineraffen, ist Spekulation. Was sagen uns die Versuche, rezente Menschenaffen zur Herstellung von Steinwerkzeugen anzuleiten? Wenn Menschenaffen (und andere lernfähige Tiere) von Menschen lernen, sich Verhaltensweisen zuzulegen, die sie von sich aus nie zeigen, dann dürften einige Individuen auch imstande sein, kognitive und manipulative Hürden zu nehmen, die sie ohne menschliche Anleitung nicht angehen würden. Es ist also keineswegs sinnlos, ihre Leistungsgrenzen auf diese Weise auszuloten. Der Vergleich dessen, was Menschenaffen unter den günstigsten Bedingungen können und was nicht, mit der Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten beim Menschen wirft ein Licht auf evolutionäre Prozesse der Menschwerdung. Doch das, was die "Stars" unter von Menschen akkulturierten Tieren lernen können, sagt wenig darüber, was vergangene Populationen von Vormenschen tatsächlich taten. Deshalb trägt Kap. 21 nichts zu BRANDTs Anliegen bei. Ohnehin steht es unter dem Vorbehalt, dass es bislang keinen auch nur halbwegs überzeugenden Grund dafür gibt, die Eolithen überhaupt als Artefakte anzusehen: Die Evolution des Werkzeuggebrauchs muss aus Funden erschlossen werden, die anders als die Eolithen durch ihre Fundsituation als Artefakte ausgewiesen sind. Alte asiatische WerkzeugeKapitel 22 befasst sich mit durch den Fundzusammenhang als Artefakte erkennbaren Steinwerkzeugen. Es handelt sich um die von BRANDT auf ein Alter von 2,2 Mio. Jahre datierten Funde von Longgupo (China), von Masol (Indien), und um die bereits erwähnten, auf ein Alter von 3,3 Mio. Jahren datierten Funde von Lomekwi 3 (Afrika). Die Werkzeuge von Longgupo wurden bisher auf ein Alter von zwischen 1,8 und 2,04 Mio. Jahre datiert. Eine neue Arbeit, die BRANDT noch nicht kennen konnte, datiert sie auf 2,5 Mio. Jahre zurück.9) Damit treten sie in jedem Fall (ob man die ältere oder die neuere Datierung vorzieht) etwa zeitgleich mit der afrikanischen Oldowan-Kultur auf, die mit H. habilis assoziiert ist, und die 2,55 Mio. Jahre zurückdatiert wird. Beide Fundorte sind danach älter als der frühe H. erectus von Dmanissi, liegen aber im Rahmen der Präsenz von H. habilis ähnlichen Hominini. (Das älteste bekannte Fossil der Gattung Homo aus Afrika ist 2,8 Mio. Jahre alt.) In der genannten Arbeit werden die Funde von Masol (Indien) beschrieben und auf ein Alter von 2,6 Mio. Jahren datiert. Sie ähneln (so CAUCHE et al. 2021) denen von Longgupo, aber weniger denen der Oldowan-Kultur. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Werkzeugkulturen von Masol und Longgupo ist die Anwesenheit von Australopithecinen oder von H. habilis bzw. von ihnen nahestehenden Hominini. Sie sind nicht fossil belegt. Aber die Erklärung passt zu der Annahme, dass sich mindestens die Gattung Homo (nach der üblichen Nomenklatur) schon vor 2 bis 3 Mio. Jahren in Eurasien ausbreitete. Die Hypothese wird durch den erwähnten, rund 2 Mio. Jahre alten Fund des H. erectus von Südafrika gestützt. Die Formen, aus denen sich H. erectus entwickelte, müssten also zumindest in Afrika schon früher präsent gewesen sein.10) Dass sie sich auch nach Eurasien ausbreiteten, ist vorstellbar und wird durch die asiatischen Werkzeugfunde wahrscheinlich. BRANDT erwähnt dieses Szenario nicht. Stattdessen arbeitet er sich an der Frage ab, ob die Steinwerkzeuge von Longgupo und Masol auf große Menschenaffen zurückgehen könnten, die fossil in beiden Zusammenhängen belegt sind. Das kann er zwar ebenfalls nicht ausschließen, aber er lenkt damit von der viel wahrscheinlicheren Hypothese ab, dass Hominini die Werkzeuge hinterließen. Und in Afrika? Wie erwähnt sind Fossilien der Gattung Homo maximal 2,8 Mio. Jahre alt. Lomekwi 3 in Kenia ist ein 3,3 Mio. Jahre alter Fundort und damit eine halbe Million Jahre älter. Die dortigen Artefakte wurden im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Fossilien gefunden, die Kenyanthropus zugeschrieben werden.11) Diese Gattung steht den Australopithecinen nahe oder gehört zu ihnen. Von ihr ist allerdings kein Extremitäten-Skelett bekannt, sodass sich ihre manipulativen Möglichkeiten nicht beurteilen lassen. Die einzigen aus der Region zeitgleich bekannten Hominini sind A. afarensis (die Spezies des berühmten Fossils "Lucy") und verwandte Australopithecinen. Sie kommen in erster Linie als Erzeuger der Artefakte in Frage. Wie erwähnt stehen die in Dikika entdeckten Knochen mit Schnittmarken in einem unmittelbaren Fundzusammenhang mit A. afarensis. Von der Anwesenheit von Wesen, die BRANDT dem "Grundtyp" Mensch zuschlagen würde, gibt es dagegen keine Spuren. Sie würden auch nicht in den Zeithorizont passen, da der bisher älteste Fund von H. erectus mehr als eine Mio. Jahre jünger ist. BRANDT indes bestreitet, dass Australopithecinen die Artefakte von Lomekwi 3 hinterließen: Die "Südaffen" seien manipulativ nicht geschickt genug gewesen, um die Artefakte herzustellen, teils wegen ihrer Handstruktur. Diese ist allerdings nur von A. afarensis und dem früheren Ardipithecus gut bekannt. Sie ist viel besser für die Manipulation von Werkzeugen geeignet als die von Schimpansen, man vergleiche etwa die Opponierbarkeit des Daumens und der übrigen Finger. Weiterhin sei das Gehirn der "Südaffen" (Neokortex) zu klein gewesen. Es war in der Tat nur wenig größer als das von Schimpansen. Zusätzlich seien die Australopithecinen nicht groß und kräftig genug gewesen, um die relativ massiven LOM3-Artefakte zu erzeugen. Man sollte solche Argumente nicht durch ausführliche Kritik aufwerten. Nur so viel: Von Kapuzineraffen weiß man, dass diese höchstens 4 kg schweren Tiere erstaunlich große Hammersteine benutzen, um Nüsse zu knacken, und dass sie dabei sogar Abschläge erzeugen.12) Das gelingt ihnen, obwohl ihre Körperhaltung und ihre Hand weniger dafür adaptiert sind als die der Hominini. Sie besitzen lediglich einen "Pseudodaumen" (pseudo-opposable thumb), während die 25 bis 30 kg schweren und aufrecht stehenden "grazilen" Australopithecinen eine zum Ergreifen von Objekten geeignete Hand hatten. Weiterhin waren in Afrika zur fraglichen Zeit wahrscheinlich schon "robuste" Australopithecinen präsent (Paranthropus u. a.), die 30 bis 50 Kilo gewogen haben müssen und kräftig gebaut waren. Der erste Nachweis für P. aethiopicus ist 2,8 Mio. Jahre alt. Diese robusten "Südaffen" werden von BRANDT nicht erwähnt. Und schließlich stellte H. floresiensis, der als "Hobbit" berühmt gewordene Hominine von Flores, beidseitig bearbeitete Steinwerkzeuge des Modus 1 aus Kernen und Abschlägen her und nutzte Feuer – obwohl sein Großhirn nicht größer war als das der grazilen Australopithecinen und sein Körpergewicht eher darunter lag! Die Frage, wer die Werkzeuge von Lomekwi 3, Longgupo und Masol herstellte, wird sich letztlich nur paläontologisch klären lassen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, sie wird dem Kreationismus nichts nützen, sondern das wissenschaftliche Bild der menschlichen Evolution ergänzen. Fazit Die Argumentation stellt sich zwiespältig dar: BRANDT referiert wissenschaftliche Erkenntnisse zwar weitgehend korrekt, zieht daraus aber Schlüsse, die nicht einmal oberflächlicher Kritik standhalten. Dies liegt daran, dass er weltanschaulich auf den Kurzzeit-Kreationismus (Junge-Erde-Kreationismus) festgelegt ist und diesen, ungeachtet der entgegenstehenden Fakten, wissenschaftlich rechtfertigen möchte. Welche Spezies auch immer die LOM3-Artefakte erzeugt haben mag, es gilt als gesichert, dass kein Homo-Vertreter als Urheber infrage kommt. Denn die älteste Homo-Spezies tritt erst eine halbe Million Jahre später in Erscheinung, Homo habilis, den BRANDT ebenfalls noch als "Affen" klassifiziert, sogar erst eine Million Jahre später! Damit ist BRANDTs Argumentation der Boden entzogen. All seine Ansichten über die kognitiven und manipulativen Fähigkeiten vormenschlicher Spezies beruhen nicht auf Fakten sondern auf spekulativer Meinung, die durch seine kreationistische Voreingenommenheit begünstigt wird. Fußnoten: [1] Michael BRANDT (2020): Vergessene Archäologie. Besprechung der 2. Auflage, erschienen bei SCM-Hänssler. [2] Zur Gruppe der Hominini zählen der moderne Mensch sowie all seine ausgestorbenen Vorfahren (von den ältesten Vormenschen bis zu den Frühmenschen), die nach der Abspaltung von der Entwicklungslinie der Schimpansen entstanden sind. Alle Hominini sind somit jünger als 7 Mio. Jahre. [4] Die Rekonstruktion der einzelnen Stufen der Werkzeugfertigung durch Analyse des gesamten Steinwerkzeug-Inventars lautet im Fachjargon chaîne opératoire. [5] BRAUN D. R. & HOVERS E. (2009) Introduction: Current issues in Oldowan research. In: dies. (Hg) Interdisciplinary approaches to the Oldowan. Vertebrate Paleobiology and Paleoanthropology. Springer, Dordrecht. [6] MCPHERRON S. P. et al. (2010) Evidence for stone-tool-assisted consumption of animal tissues before 3.39 million years ago at Dikika, Ethiopia. Nature 466, S. 857–860. [7] BRAUN D. R. & HOVERS E. (2009), a.a.O. [8] Der Punkt ist noch in der Diskussion. Hier wird die Mehrheitsmeinung referiert. Siehe dazu die abweichende Meinung von PRANG, T. C. et al. (2021) Ardipithecus hand provides evidence that humans and chimpanzees evolved from an ancestor with suspensory adaptations. Science Advances 7: eabf2474. Dagegen argumentieren CHANEY, M. E. et al. (2021) The foot of the human-chimpanzee last common ancestor was not African ape-like: A response to Prang. Journal of Human Evolution 2021 Jan 10: 102940. (Zugriff März 2021). [9] CAUCHE, D. et al. (2021) Pre-Quaternary hominin settlements in Asia: Archaeology, biolithostratigraphy and magnetostratigraphy evidences at Masol, Siwaliks, Northwestern India. L'Anthropologie 102846. (Zugriff März 2021). [10] Ein indirekter Hinweis auf die Präsenz der Gattung Homo in Asien noch vor H. erectus sind die viel jüngeren, über lange Zeit isolierten Inselformen H. floresiensis und H. luzonensis, von denen man heute annimmt, dass sie eher von frühen Gattungsvertretern oder sogar von Australopithecinen als von H. erectus abstammen. [11] HARMAND, S. et al. (2015) 3.3-million-year-old stone tools from Lomekwi 3, West Turkana, Kenya. Nature 521, S. 310–315. [12] Männliche Kapuzineraffen benutzten meist über 1 Kilogramm schwere Steine, um Nüsse zu knacken, Weibchen rund 900 Gramm schwere Steine. Das entspricht einem Viertel bis zur Hälfte ihres Körpergewichts. Im Experiment benutzten beide Geschlechter auch einen 3,5 kg schweren Hammerstein mit Erfolg, d. h. sie konnten einen Stein ihres eigenen Körpergewichts manipulieren; s. SPAGNOLETTI, N. et al. (2011) Stone tool use by adult wild bearded capuchin monkeys (Cebus libidinosus). Frequency, efficiency and tool selectivity. Journal of Human Evolution 61/1, S. 97-107. Autoren: Hansjörg Hemminger & Martin Neukamm |