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Druck-Version Besprechung Wie viele Gene braucht eine funktionierende Zelle, und was sagt dies über die frühe Evolution?Kommentar zu: "Die sich teilende Zelle benötigt mindestens 492 Gene"Der evangelikale Verein WORT & WISSEN veröffentlichte jüngst einen Beitrag mit dem Titel "Ganz oder gar nicht: Die sich teilende Zelle benötigt mindestens 492 Gene" (BORGER 2021).1) Dieser argumentiert nach altbekanntem Muster: Eine funktionsfähige Zelle benötige etwa 500 Gene. Sind es weniger, ist die Zelle nicht lebens- bzw. teilungsfähig. Es könne somit keine einfacher strukturieren Vorstufen geben, die funktional sind. Folglich müssten all diese Gene "auf einen Schlag" entstanden sein, was eine nicht-zielgerichtete Evolution nicht leiste. Der aufmerksame Leser entdeckt das dahinterstehende Prinzip: Es geht um "irreduzible Komplexität", die angeblich nicht schrittweise entstehen könne. Als Entstehungsursache benötige sie einen intelligenten Planer bzw. Schöpfer-Gott. Die Story, an der BORGER seine Argumentation aufzieht, ist schnell erzählt: Craig VENTER, ein Pionier der Humangenom-Sequenzierung, versuchte sich an der synthetischen Konstruktion eines bakteriellen Minimal-Genoms. Dabei stellte er fest, dass es eines "harten Kerns" von rund 500 Genen bedarf, damit die Zelle lebens- und teilungsfähig ist. Doch wie üblich ist das nur die halbe Wahrheit; geschickter Weise enthält WORT & WISSEN dem Leser relevante Informationen vor: Das Portfolio von 500 Genen entspricht dem Minimalbedarf moderner Zellen mit DNA-Genom und Replikation, Genstruktur und Transkriptionssteuerung, Translation bzw. Proteinbiosynthese. Entfernt man solchen Zellen einige Gene, gehen sie natürlich zugrunde. Doch im Vergleich zu modernen Zellen ist die Architektur echter Urzellen, die diese Bezeichnung verdienen, um Größenordnungen einfacher:
Der Kardinal-Fehler in BORGERs "Argumentation" liegt also darin, dass er fälschlicherweise voraussetzt, die heutigen Zell-Strukturen müssten von Beginn an in genau diesen (aktuellen) Funktionszusammenhängen entstanden sein. Das ist eben nicht der Fall. Nach GÁNTI (2003)5) ist die Minimalausstattung der einfachsten Zelle wesentlich unkomplizierter als die von BORGER übertrieben komplex dargestellte Minimalzelle. Dabei startet GÁNTI keineswegs mit einem sich selbst replizierenden RNA-System, das noch deutlich einfacher wäre. Vielmehr setzt er bereits dessen stöchiometrische Kopplung mit einem metabolischen Subsystem (autokatalytischen Stoffwechsel) sowie mit einem membranbildenden Zyklus voraus. Er taufte diesen zellulären Modell-Automaten "Chemoton". Man sieht also: Man kann Falschinformationen verbreiten, ohne ein einziges falsches Wort zu sagen. Man muss einfach nur gezielt relevante Informationen unterschlagen, und das praktiziert WORT & WISSEN seit Jahrzehnten mit Akribie und Meisterschaft. Fußnoten: [1] Borger, P. (2021) Die sich teilende Zelle benötigt mindestens 492 Gene. [2] Übrigens: Heutige RNA-Viren kommen mit einem einzigen Replikase- und-Transkriptase-Holoenzym aus (und ohne Rückgriff auf zelluläre Replikasen oder Transkriptasen). [4] Ob diese Organisationsstufe bereits zellulär oder in irgendeiner Form proto-zellulär – z.B. lokalisiert in Mikrosphären oder hydrothermalen Kavitäten – war, lässt sich nicht sagen. Es ist auch fraglich, wie weit diese Zeit noch aufgeklärt werden kann, weil faktisch alle Spuren von damals zerstört sind. [5] GÁNTI, T. (2003) The Principles of Life. Oxford University Press, ISBN 9780198507260 Autor: Andreas Beyer |