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Druck-Version Diskussionsbeitrag Bis heute (doch nicht) fast unverändert: "programmierter" ZelltodSind konservierte Strukturen ein Problem für die Evolutionstheorie?Reinhard JUNKER ist Autor einer News über das Apoptose-System von Korallen.1) In Kurzform versteht man unter "Apoptose" den vom Organismus eingeleiteten und streng regulierten Zelltod zum Beispiel verletzter oder entarteter Zellen oder von Geweben, die im Rahmen der Embryogenese entstehen, dann aber im Rahmen der weiteren Entwicklung abgebaut werden. Dass dieser Prozess sehr alt und sowohl für die Embryonalentwicklung als auch für erwachsene Organismen unverzichtbar ist, war schon lange klar. Eingehende Untersuchungen ergaben daher, dass die Apoptose faktisch in allen tierischen Mehrzellern hochgradig konserviert (also sehr ähnlich geblieben) ist. Was ist daran nun verwunderlich? Lassen wir JUNKER selbst zu Wort kommen; die Zusammenfassung seines Beitrags lautet: Die molekularen Bestandteile, die dem programmierten Zellabbau (oder Zelltod, Apoptose) zugrunde liegen, sind zwischen Mensch und Koralle austauschbar. Aus evolutionsbiologischer Perspektive muss ein erstaunliches Ausmaß an evolutionärem Stillstand (Stasis; Konservierung) postuliert werden. Ausgerechnet unter den basalen und damit als stammesgeschichtlich sehr alt geltenden Vielzellern findet sich das vielseitigste Apoptose-System. Die anti-evolutionistische Argumentation Nun ist JUNKER ehemaliger Geschäftsführer der kreationistischen Organisation WORT UND WISSEN. Als solcher glaubt er, der von ihm porträtierten Erkenntnis ließen sich Argumente gegen die Evolutionstheorie entnehmen. Das "erstaunliche Ausmaß an Konservierung" des zellulären Apoptose-Mechanismus sei, so JUNKER, aus evolutiver Sicht problematisch, denn ... in evolutionstheoretischer Interpretation muss ein Stillstand bezüglich der Evolution dieses Mechanismus von mindestens 550 Millionen Jahren angenommen werden. Andererseits werfen sie aber auch die Frage auf, wann und wie ein solcher Mechanismus überhaupt evolutiv entstand. Denn wenn er offenkundig nicht nennenswert veränderbar ist, wie sollen dann hypothetische Vorstufen in irgendeiner Weise funktional und damit existenzfähig sein? Die Daten zeigen einmal mehr: Abruptes Auftreten und dann weitgehend Konstanz eines zentralen biologischen Struktur- und Funktionsgefüges. Weiterhin bemerkt JUNKER, mit Blick auf die basale Stellung der Korallen im Stammbaum der Tiere käme die Entdeckung ihrer großen genetischen Vielfalt unerwartet. Ihre recht luxuriöse genetische Ausstattung bewirkt, dass die Korallen, scheinbar im Widerspruch zu ihrer morphologischen Einfachheit und phylogenetischen Ursprünglichkeit, die komplexeste TNF-Rezeptor-Superfamilie (als Teil des Apoptose-Programms) besitzen: Ein Vergleich mit der Taufliege Drosophila ergab, dass in dieser Linie im Gegensatz zur Linie zum Menschen wichtige Teile der TNF-Superfamilie fehlen, was evolutionstheoretisch als Verlustentwicklung interpretiert wird. Zuvor war angenommen worden, dass die Zahl der Mitglieder der TNF-Superfamilie nach der Trennung der Linie der Wirbeltiere von der der Wirbellosen zugenommen habe. Nun hat sich herausgestellt, dass im Gegenteil die Korallen das vielseitigste Repertoire der TNF-Superfamilien besitzen. Um es vorwegzunehmen: JUNKERs Argumente sind geprägt von elementar falschen Evolutionsvorstellungen. Die Gründe seien im Folgenden erörtert. Konservierung bedeutet nicht evolutionärer Stillstand Ein gravierendes Problem besteht darin, dass JUNKER Konservierung mit Stasis, also mit "evolutionärem Stillstand" vermengt und verwechselt. Konservierung bedeutet, dass einige Strukturen, Gene oder Verhaltensweisen in der Evolution weitgehend unverändert (das heißt ursprünglich) geblieben sind. Anders gesagt, der konservative Charakter der Evolution äußert sich im gleichzeitigen Vorhandensein von modernen (abgeleiteten) und konservierten (ursprünglichen) Merkmalen in Bezug auf eine evolutionäre Stammform. Dies entspricht dem altbekannten Konzept der Mosaikevolution. Aus Gründen, auf die wir noch zu sprechen kommen, verkörpern Organismen ausnahmslos ein Mosaik aus konservierten und modernen Merkmalen. Konservierte Merkmale existieren sowohl in evolutionären Linien, die sich im Lauf der Geschichte nachhaltig verändern als auch in solchen, die ihrer "alten Form treu" bleiben (Stasis). Insofern ist der Umstand, dass gerade das phylogenetisch so alte wie erfolgreiche Apoptose-System in der Entwicklungsgeschichte der Tiere konserviert blieb, keine besonders aufregende Feststellung. Der Begriff der Stasis bzw. des evolutionären Stillstandes, den JUNKER in diesem Zusammenhang verwendet, meint etwas anderes: Von Stasis kann nur gesprochen werden, wenn sich eine Art oder Organismengruppe morphologisch über eine lange Zeit hinweg kaum ändert. Hält dieser Zustand bis in die Gegenwart an, sprechen wir von "lebenden Fossilien". Auch das ist nicht außergewöhnlich: Ändern sich Ökosysteme über Millionen Jahre kaum, können Reliktfaunen überdauern, die anderswo verschwunden sind oder sich längst weiterentwickelt haben. Aber von evolutionärem Stillstand zu sprechen, weil sich einzelne Merkmale wie das Apoptose-System der Tiere seit 550 Mio. Jahre nicht mehr nennenswert änderten, ist eine krasse Fehletikettierung. Im Übrigen können auch hochkonservierte makroskopische Strukturen auf molekularer, genetischer oder gar zellulärer Ebene beträchtlich variieren, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Schon deshalb ist die Gleichsetzung von Konservierung mit Stasis unzulässig. Stabilisierende Selektion und Entwicklungszwänge erklären vieles Auch im folgenden Abschnitt offenbart sich ein krasses Unverständnis von Evolution: Beispiele wie der zelluläre Apoptose-Mechanismus zeigen einerseits ein erstaunliches Ausmaß an Konservierung eines zellulären Prozesses und seiner Bestandteile … Andererseits werfen sie aber auch die Frage auf, wann und wie ein solcher Mechanismus überhaupt evolutiv entstand. Denn wenn er offenkundig nicht nennenswert veränderbar ist, wie sollen dann hypothetische Vorstufen in irgendeiner Weise funktional und damit existenzfähig sein? JUNKER scheint nicht begreifen zu wollen, dass die Evolution nicht zwingend bestimmte Entwicklungen forciert. Erstens wirkt die Selektion oft stabilisierend, sobald ein lokales Optimum erreicht ist. Sobald es erreicht ist, wird das betreffende System zunächst erhalten bleiben (sich gleichwohl langsam weiter anpassen), bis sich ökologische oder andere relevante Faktoren erheblich ändern. Zweitens ist schon lang bekannt, dass die Merkmalsgefüge von Organismen nicht unbegrenzt durch Mutation und Selektion formbar sind, sondern über eine Integrität oder über interne homöostatische Mechanismen verfügen, die bestimmte Entwicklungspfade ermöglichen und andere eben nicht. Das gilt insbesondere für Merkmale, auf deren Funktionieren zahlreiche weitere Merkmale angewiesen sind. Das Ergebnis ist folglich kein kontinuierlicher Wandel aller Merkmale einer Population über die Zeit, sondern eine Mosaikevolution. Gerade die Apoptose-Mechanismen und die daran beteiligten Proteine und Protein-Domänen sind sowohl für die Embryogenese als auch für die Homöostase adulter Organismen derart essenziell, dass ihre evolutionäre Konservierung alles andere als rätselhaft ist. Und drittens: Wenn sich bestimmte Merkmale weiterentwickeln, gibt es keinen eingebauten Automatismus, der eine definierte Entwicklungsgeschwindigkeit vorgibt. Dass sich bestimmte Strukturen entwickeln, dann aber (mehr oder weniger!) konstant bleiben, ist im Gegenteil evolutionstheoretisch durchaus zu erwarten: Wenn einmal ein Weg eingeschlagen wird, läuft er bis zu einem optimierten Zustand. Der Weg dorthin mag kurz oder lang sein, was von den Randbedingungen im System, der Ökologie und anderen Faktoren abhängt. Funktionale Vorstufen des "programmierten" Zellabbaus existieren Ein weiteres Problem ist, dass die im Folgenden von JUNKER geäußerte Prämisse und rhetorische Frage in keinem logischen Zusammenhang mit der Konservierung des Apoptose-Mechanismus stehen: Wenn er [der Apoptose-Mechanismus] offenkundig nicht nennenswert veränderbar ist, wie sollen dann hypothetische Vorstufen in irgendeiner Weise funktional und damit existenzfähig sein? Im Klartext: Die Konstanz eines (zumindest lokal optimierten) Merkmals impliziert weder dessen weitgehende Unveränderbarkeit, noch, dass Vorstufen nicht existenzfähig seien. Um nur ein Beispiel zu nennen: Säugetiere sind auf ihr vierkammeriges Herz angewiesen, weswegen es in dieser Klade stark konserviert blieb. Daraus folgt aber nicht, dass es sich nicht aus einfacheren Vorstufen wie dem zwei- und dreikammerigen Herzen entwickelt haben kann. Bei den kaltblütigen Vorfahren der Säugetiere reichte ein weniger effizientes Herzkreislauf-System völlig aus. Mit der Weiterentwicklung zum vierkavitären Herzen ergab sich jedoch die Möglichkeit einer energetisch anspruchsvolleren Lebensweise (Endothermie), einschließlich der Evolution energieintensiver Muskulatur, Gehirne usw. Erst infolge dieser "Bebürdung" des Vierkammerherzens mit anspruchsvollen Merkmalen wurde es unverzichtbar. Analoges darf man für die Apoptose-Mechanismen annehmen. Freilich klaffen bei letzteren Lücken in der Überlieferung, weil die Mechanismen uralt sind und biochemische Signalwege nicht fossilisiert werden. Das ist die einzige logisch nachvollziehbare und vernünftige Erklärung für ihr "abruptes Auftreten". So sind die heute lebenden, basalen Metazoa (Nesseltiere, Rippenquallen, Schwämme, Placozoen) im Körperbau sowie im Grad ihrer Komplexität noch recht nah am gemeinsamen Ursprung aller heutigen Tiere. Jener Vorfahr war aber beileibe nicht der allererste tierische Vielzeller. Von den ersten Vertretern, die wir teils aus der Ediacara-Fauna versteinert kennen, hat leider kein weiterer Repräsentant überlebt. Die Zeit wird zeigen, was die Genomanalysen von den uns nächst verwandten Einzellern (etwa den Choanoflagellaten) ergeben wird. Jedenfalls zeigen sich dort Vorformen (!) der Apoptose (vgl. LARSON et al. 2020, GONZÁLEZ et al. 2008), weil Einzeller auch miteinander interagieren und oft bestimmte, definierte Aggregate bilden können. Einige apoptotische Mechanismen lassen sich sogar bei Bakterien nachweisen (KACZANOWSKI 2016). Genetische Vielfalt und morphologische Komplexität gehen nicht Hand in Hand Nun mag es durchaus sein, dass die Fachwelt, entgegen ursprünglicher Erwartungen, ihrem "Erstaunen" darüber Ausdruck verlieh, dass die basalen Vertreter der Tiere bereits "alle wesentlichen Komponenten des Apoptose-Programms" (wie etwa die vielfältigen TNF-Proteine), besitzen. Und richtig: Ein Vergleich mit der Taufliege Drosophila ergab, dass in dieser Linie im Gegensatz zur Linie zum Menschen wichtige Teile der TNF-Superfamilie fehlen, was evolutionstheoretisch als Verlustentwicklung interpretiert wird. Zuvor war angenommen worden, dass die Zahl der Mitglieder der TNF-Superfamilie nach der Trennung der Linie der Wirbeltiere von der der Wirbellosen zugenommen habe. Nun hat sich herausgestellt, dass im Gegenteil die Korallen das vielseitigste Repertoire der TNF-Superfamilien besitzen. Ein Widerspruch zur Evolutionstheorie liegt hier aber nicht vor, denn warum sollte "ausgerechnet bei stammesgeschichtlich sehr alten Vielzellern" kein komplexes System vorkommen? Alle Organismen dieser Erde haben auf Jahr und Stunde das gleiche phylogenetische Alter. Und die Cnidaria (zu denen die Korallen gehören) hatten mehr als 500 Mio. Jahre Zeit, ihre Merkmale zu perfektionieren. Kein Wunder also, dass die rezenten Formen mit ihren Nesselzellen biomechanisch äußerst komplex aufgebaute Strukturen besitzen. Dabei kam den basalen Tieren der Umstand zugute, dass sie bereits vor 650 Mio. Jahren den größten Teil des Genkatalogs höherentwickelter Vielzeller besaßen und zum "Experimentieren" einsetzen konnten. Warum sind sie dann weit weniger komplex als wir Menschen beispielsweise? Weil morphologische Komplexität nur schlecht mit genetischer Vielfalt korreliert. Zwar findet man im Großen und Ganzen eine Zunahme der Anzahl der Gene im Genom von basalen bis hin zu stark abgeleiteten und komplexen Tieren. Dieser Unterschied ist aber erstaunlich [sic!] gering: Wir Menschen besitzen nicht sehr viel mehr Gene als ein Fadenwurm. Über die morphologische Komplexität von Organismen entscheidet nicht die genetische Vielfalt, sondern
Da diese Komplexitätsniveaus bei den Korallen gering sind, ist auch ihre Morphologie recht einfach; deshalb stehen sie an basaler Stelle im Stammbaum der Tiere. Das heißt aber nicht, dass sämtliche Merkmale ursprünglicher Tiere sehr einfach gestaltet sein müssen. Ist das "erstaunliche Ausmaß" an Konservierung doch nicht so groß? Nun stimmt es zwar, dass in den Apoptose-Systemen der Tiere bemerkenswerte evolutionäre Parallelen existieren. Dabei spricht JUNKER hauptsächlich bestimmte Aspekte des sogenannten extrinsischen Signalwegs an, wie etwa die sehr ähnliche Rezeptor-Architektur der TNF-Rezeptorfamilie. Diese Tiefen-Homologien werden jedoch von einer hohen Variabilität der Apoptose-Mechanismen unter den Lebewesen überlagert. Insbesondere existieren eine Reihe weiterer Signalwege, die den Zelltod auslösen, etwa der intrinsische Signalweg. Durchmustert man die generischen Architekturen der beteiligten Proteine im Tier- und Pflanzenreich, stößt man auf eine Fülle verschiedener Rezeptoren, Adaptermoleküle und Transkriptionsfaktoren, deren (Todes-) Domänen und Bindemotive ganz unterschiedlich miteinander kombiniert werden (vgl. HOFMANN 2022, Fig. 2). Obwohl also die Domänen und Proteine hochkonserviert geblieben sind, zeigt sich insgesamt eine hohe Heterogenität bei der Ausarbeitung der apoptotischen Signalwege bei Tieren (KRASOVEC et al. 2021). Unter dem Gesichtspunkt, dass offensichtlich "viele Wege nach Rom" (sprich: zum Zelltod) führen und einmal evolvierte Proteindomänen und Bindemotive (via Domain-Shuffling) vielfältig kombinierbar sind, wäre (auf Basis der Tiefen-Homologien) eine parallele, teils unterschiedliche Entwicklung und Ausdifferenzierung apoptotischer Signalwege zu erwarten. In der Tat scheinen die Ergebnisse von KRASOVEC et al. (2021) eine konvergente Evolution zu unterstützen. Da es sich hier um ein Preprint handelt, ist eine abschließende Bewertung der Studienergebnisse derzeit noch nicht möglich. Wir sehen jedoch, dass die Forschungsergebnisse ständig im Fluss sind. Erfahrungsgemäß ist die Halbwertszeit anti-evolutionistischer Argumente kurz; hier zeigt sich einmal mehr, dass die Voraussetzungen, mit denen Kreationisten die Evolutionstheorie bewerten, fehlerhaft und antiquiert sind. Fazit Auch mit diesem Beitrag zeigt sich leider wieder die Eindimensionalität kreationistischen Denkens. Genauer: JUNKER lehrt ein antiquiertes Evolutionsverständnis, das er dann vor den Augen seiner Klientel problematisiert. Das ist nichts anderes als die bekannte Strohmann-Taktik. Die Forschung ist längst weiter. Literatur GONZÁLEZ, A.M.; DÍAZ, S.; GALLEGO, A. & GUTIÉRREZ, J.C. (2008) Programmed nuclear death and other apoptotic-like phenomena in ciliated protozoa. In: Programmed cell death in protozoa. Molecular Biology Intelligence Unit. Springer, New York, NY. https://doi.org/10.1007/ 978-0-387-76717-8_12 HOFMANN, K. (2022) The evolutionary origins of programmed cell death signaling. Cold Spring Harb. Perspect Biol. https://www.doi.org/10.1101/ cshperspect.a036442 KACZANOWSKI, S. (2016) Apoptosis: its origin, history, maintenance and the medical implications for cancer and aging. Phys. Biol. 13 031001. KRASOVEC, G.; QUÉINNEC, E. & CHAMBON, J.-P. (2021) Intrinsic apoptosis is evolutionary divergent among metazoans. bioRxiv, preprint, 1-45. https://doi.org/10.1101/ 2021.12.21.473695 LARSON, B.T.; RUIZ-HERRERO, T.; LEE, S. & KUMAR, S. (2020) Biophysical principles of choanoflagellate self-organization. PNAS 117, S. 1303-1311 - sowie die dort aufgeführten Literaturstellen. Fußnoten [1] JUNKER, R. (2014) Von Anfang bis heute fast unverändert: Programmierter Zellabbau. Autoren: Prof. Dr. Andreas Beyer & Martin Neukamm |