|
Druck-Version Nachruf Zum Tod von Dr. habil. rer. nat. Hansjörg HemmingerDie AG-Evolutionsbiologie trauert um ihr langjähriges Mitglied Dr. Hansjörg Hemminger, der am 16.06.2022 im Alter von 73 Jahren nach kurzer Krankheit völlig überraschend verstarb. Der Verhaltensbiologe und Spezialist für Sekten und religiös-fundamentalistische Gruppierungen wurde am 09.10.1948 in Rottweil geboren. Seine schwäbische Heimat prägte sein Denken und Handeln im Forschungs- und Handlungsfeld von Glauben und Naturwissenschaft nachhaltig. Die theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Tradition des württembergischen Pietismus ermöglichte es ihm, als ein höchst souveräner und kenntnisreicher Brückenbauer (württembergisch formuliert: ein "Käpsele") auch in umstrittenen Feldern zu agieren. Er steht damit in der Reihe der verdienstvollen "württembergischen Väter", beginnend mit Johann Albrecht Bengel, bis hin zu Karl Heim. Hansjörg Hemminger studierte Biologie im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach an den Universitäten Tübingen und Freiburg. Er wurde mit einer Arbeit zum Thema "Zentralnervöse Datenverarbeitung beim Farbensehen des Menschen" promoviert und an der Universität Freiburg im Bereich Verhaltensbiologie habilitiert. Sein Interesse und seine Kompetenz in verhaltensbiologischen und verhaltenspsychologischen Fragen ließ ihn ab Ende der 1970er Jahre zum Fachmann einer begründeten religionspsychologischen Sicht und Kritik auf die sog. "Jugendreligionen" und neuen "Sekten" werden. Sein 2003 veröffentlichtes Werk Grundwissen Religionspsychologie eröffnete wichtige Einblicke in die Analyse und die Kritik fundamentalistischer und extremistischer Tendenzen in Glaube und Naturwissenschaft. Von 1984 bis 1996 war er wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin. In dieser Zeit begann seine theologische und naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der bibelfundamentalistischen, kreationistisch-pseudowissenschaftlich argumentierenden "Studiengemeinschaft Wort und Wissen". Sein im Jahr 1988 erschienener Aufsatz Kreationismus zwischen Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft (EZW 16, Stuttgart) zählt bis heute zu den besten und umfassendsten Analysen des Kurzzeit-Kreationismus. Von 1996 bis 1998 gehörte er als Sachverständiger der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestages an, die 1998 in ihrem Endbericht eine wichtige Klärung des Sektenbegriffs vorlegte. Weiterhin setzte sich Hemminger kritisch mit Esoterik, der Psychologie von Sekten wie den "Zeugen Jehovas" und der "alternativen Psychoszene" auseinander. Von 1997-2013 war Hansjörg Hemminger Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er war dort sehr erfolgreich und häufig als Referent eingeladen. Ferner war er in der theologischen Erwachsenenbildung, der Fort - und Weiterbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrer tätig. Von 2007 bis 2022 war Hemminger engagiertes Mitglied der AG EvoBio im Verband Deutscher Biologen. In dieser Eigenschaft publizierte er zahlreiche Artikel und Buchbeiträge zu evolutionsbiologischen Themen. Ein Großteil seines Schrifttums widmete sich dabei der Analyse und Kritik pseudowissenschaftlicher Einwände des Kreationismus gegen die etablierten Theorien der Geo- und Evolutionswissenschaften. Hemminger trat dabei auch leidenschaftlich für die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse unter Christen ein. 2021 konnte Hansjörg Hemminger noch sein Werk Evolutionary Processes in the Natural History of Religion veröffentlichen, zu dem er selbst schrieb: "[Diese Arbeit] untersucht die Evolution der menschlichen Religion aus der Perspektive der modernen Evolutionsbiologie. Sie nähert sich auf einzigartige Weise der Paläontologie der Religion aus biologischer Sicht. Sie eruiert, wie die Evolution der Religion durch ein mehrstufiges und mehrdimensionales Modell beschrieben werden sollte" (ins Deutsche AG EvoBio). Hansjörg Hemminger bestach nicht nur durch seine Freundlichkeit, seinen Kenntnisreichtum und seine breit gefächerte Bildung, sondern auch durch sein Engagement, seine Leidenschaft und seinen Humor. Die AG Evolutionsbiologie wird den Gedankenreichtum, die Gelehrsamkeit und die tiefe menschliche Empathie Hemmingers sehr vermissen und sein Andenken in Ehren halten. Autor: AG Evolutionsbiologie |