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Special Paper

Hat die Evolution ein Wartezeitproblem?

Biologische Komplexität und der Gipfel des Unwahrscheinlichen

Evolution: Hat sie ein Wartezeitproblem?

Ob Bakteriengeißel, Vogelflügel oder Wirbeltierauge – das Leben strotzt nur so vor Merkmalen, deren Komplexität und Anpassungsfähigkeit uns in ihren Bann ziehen. DARWIN hatte Recht, als er bemerkte, dass sich aus einfachen Anfängen eine endlose Reihe der wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt. Naturgemäß stößt diese Erkenntnis auf den Widerstand von Evolutionsgegnern. Oft bringen sie bestimmte Versionen des Wartezeitproblems ins Spiel. Da es sich um einen gängigen Einwand gegen das handelt, was sie unter "Makroevolution" verstehen, wollen wir deren Argumentation systematisch unter die Lupe nehmen.

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Zum Übersichtsartikel [37 Seiten/17 Abb.]



Aus dem Inhalt

❍    Was ist das Wartezeitproblem?

❍    Zwischenfazit: Die Evolution innovativer Merkmale sei unplausibel

❍    1. Annahme: Evolution müsse "feste, vorgegebene Ziele" erreichen

❍    2. Annahme: die astronomische Seltenheit funktionaler Sequenzen

❍    3. Annahme: Vorgegebene "Ziele" erforderten "mehrere koordinierte Mutationen"

❍    4. Annahme: Positive Selektion starte erst, wenn das Ziel erreicht sei

❍    5. Annahme: serielle Fixierung von Mutationen und Rekombination

❍    Zusammenfassung

❍    Literatur



Zusammenfassung

Das Wartezeitproblem, welches BEHE & SNOKE (2004), SANFORD et al. (2015), HÖSSJER et al. (2021) und andere Evolutionsgegner vorbringen, ist aus biologischer Sicht bedeutungslos. Da wird unter falschen Voraussetzungen in einer Weise gerechnet, modelliert und simuliert, dass dabei völlig unrealistische Ergebnisse erzielt werden.

Wenngleich die mathematische Beschreibung fehlerfrei sein mag, so können falsche Vorannahmen und fragwürdige Eingaben nur zu unsinnigen Ergebnissen führen. Unter Wissenschaftlern, die mit Modellsystemen arbeiten, ist dieser Grundsatz unter der Bezeichnung GIGO (Abkürzung für Garbage In, Garbage Out) bekannt. Die Wartezeit-Berechnungen der Evolutionsgegner erweisen sich als ein Paradebeispiel für GIGO.

Erstens ist die Annahme falsch, die Evolution müsse auf vorab festgelegte Ziele warten. Die Evolution wartet nicht auf vordefinierte Sequenzen, Strukturen oder Funktionen. Das Einzige, was zählt, sind (beliebige) Fitnessvorteile. Es gibt Myriaden Möglichkeiten, einen Fitnessvorteil zu realisieren. Selbst vordefinierte Funktionen lassen sich auf vielen, ganz verschiedenen Wegen realisieren, bestimmte Enzyme und Bindestellen wiederum auf eine Fülle unterschiedlicher Sequenzen zurückführen.

Zweitens sind funktionale RNA-, DNA- und Aminosäuresequenzen im „Suchraum“ aller möglichen Sequenzen um astronomische Größenordnungen häufiger als behauptet. Knock-out-Experimente belegen zudem, dass Neofunktionalisierungen erstaunlich rasch erfolgen können. Gelegentlich sind Zufallssequenzen nur eine Mutation von einem neuen Funktionszustand entfernt.

Drittens enthalten die Ad-hoc-Modelle der Evolutionsgegner äußerst restriktive, biologisch unrealistische Modellparameter. Sie sorgen von vornherein dafür, dass z.B. Neofunktionalisierungen von Proteinen aussichtslos erscheinen. Die Annahme etwa, 70% aller Punktmutationen würden ein Protein inaktivieren, ist eine grobe Fehleinschätzung. Realitätsfern ist auch die These, nur spezielle Aminosäure-Positionen innerhalb eines Proteins kämen für bestimmte Neofunktionalisierungen infrage.

Viertens werden Aspekte ausgeblendet, die Wartezeiten um mehrere Größenordnungen senken. Dazu zählen indirekte Selektionseffekte, die Selektion auf Zwischenzustände, mögliche Doppel- und Brückenfunktionen, phänotypische Mutationen, Rekombination und kryptische genetische Variation. Letztere ermöglicht es, dass auch komplexe Anpassungen, die drei oder vier spezifische Neutralmutationen erfordern, in kleinen Populationen sich geschlechtlich fortpflanzender Individuen in überschaubarer Zeit fixiert werden können.

Unter dem Strich begehen die Proponenten des Wartezeitproblems den Fehlschluss des Texanischen Scharfschützen. Dabei handelt es sich um einen Logikfehler, der Zufallsereignisse, denen man eine bestimmte Apriori-Wahrscheinlichkeit beimessen kann, nachträglich als vorab festgelegtes Ziel deklariert. Dabei wird übersehen, dass sich im Nachhinein jedes zufällige Ereignis beliebig unwahrscheinlich rechnen lässt.

Es verhält sich so als würde ein Schütze mit verbundenen Augen und einer Schrotflinte bewaffnet auf ein Scheunentor feuern. Anschließend malt er um die Einschusslöcher, die zufällig ein bestimmtes komplexes Muster aufweisen, eine Zielscheibe und behauptet, das Muster sei absichtlich erzeugt worden. Die Tatsache, dass den wenigen „Treffern“ eine Vielzahl von Einschusslöchern gegenübersteht, deren Muster nicht weniger komplex anmuten, bleibt unberücksichtigt.

Autoren: Martin Neukamm, Mikkel Rasmussen & Andreas Beyer


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