Das kommt darauf an, was man unter Theorien und Tatsachen versteht: Alltagssprachlich setzen wir eine Theorie oft mit einer (vagen) Vermutung gleich, die im Gegensatz zu den vermeintlich „unumstößlichen Tatsachen“ stehe. So hören wir einen Rechtsanwalt sagen, die Klageschrift gegen seinen Mandanten beruhe nicht auf Tatsachen, sondern bloß auf einer Theorie der Staatsanwaltschaft. Niemand könne belegen, dass er das unterstellte Delikt begangen habe. Auch die Auffassung, die Stammesgeschichte sei keine Tatsache, sondern eine unbewiesene Theorie oder, schlimmer noch, nur eine Hypothese, genießt in Laienkreisen eine gewisse Popularität. Daher überrascht es nicht, wenn Biologen den Einwand kontern, indem sie behaupten, Evolution sei keine Theorie mehr, sondern bereits eine gefestigte Tatsache.
Diese Art der Gegenüberstellung von Theorie und Tatsache ist jedoch inadäquat; Theorien sind nach VOLLMER (1985, S. 273) nämlich „in kognitiver Hinsicht das Beste, was wir in den empirischen Wissenschaften überhaupt haben können“. Man denke nur an EINSTEINs Allgemeine Relativitätstheorie; sie beschreibt und erklärt die Auswirkungen der Gravitation im Kosmos. In den letzten hundert Jahren überprüften sie Wissenschaftler unzählige Male, all die theoretischen Vorhersagen sind bislang glänzend bestätigt worden. Erst vor wenigen Jahren konnten Astronomen auch die von der Theorie vorhergesagten Gravitationswellen nachweisen. Das heißt, ihre Erklärungskraft ist so profund, dass wir sie als wohlbestätigt bezeichnen können.
Entgegen der landläufigen Meinung sind Theorien also keine vagen Vermutungen, sondern logische Aussagen-Systeme, mit deren Hilfe die Wissenschaften bestimmte Gegenstände, Prozesse oder historische Begebenheiten beschreiben und erklären (MAHNER 2000). Tatsachen (bzw. Sachverhalte) wiederum sind das, was die Theorien beschreiben und erklären. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist keine Tatsache, sondern repräsentiert Tatsachen, die mit Gravitation zu tun haben, die gekrümmte Raum-Zeit beispielsweise.
Nicht anders ist es um die Evolutionstheorie bestellt. Sie kann so gut bestätigt sein wie sie will, sie wird dadurch nie zur Tatsache selber, sondern ist und bleibt eine Theorie zur Beschreibung und Erklärung der (historischen) Tatsache Evolution und ihrer Faktoren. Der Ausdruck Hypothese sagt nach wissenschaftstheoretischer Standard-Definition ebenfalls nichts über ihren Bestätigungsgrad aus. Hypothesen sind nicht besonders spekulative Theorien, wie oft geglaubt wird, sondern schlicht wissenschaftliche Einzel-Aussagen.
Die Aussage „Der Schimpanse ist der nächste lebende Verwandte des Menschen“ stellt eine solche (Verwandtschafts-) Hypothese dar. Sie bleibt immer eine Hypothese, obwohl die Fachwelt heute 👉 keine berechtigten Zweifel mehr an ihrer Faktizität gelten lässt.
Hypothesen und Theorien werden also klar voneinander unterschieden, und zwar anhand ihrer logischen Struktur:
„Eine Theorie ist nicht etwa eine einzelne Hypothese, sondern ein System logisch miteinander in Beziehung stehender Aussagen (Hypothesen), das einen bestimmten Gegenstandbereich beschreibt bzw. erklärt. Ein solches Aussagensystem besteht aus einer Menge von Grundaussagen und aus einer (prinzipiell unendlichen) Menge von Aussagen, die logisch aus den Grundaussagen folgen.“ (MAHNER 2000)
Auch der Begriff „Tatsache“ sagt nichts über den Grad der Sicherheit, mit dem der Sachverhalt als erwiesen gilt. So gibt es offensichtliche Tatsachen wie das Wirken der Schwerkraft, hypothetische Tatsachen wie Schwarze Löcher, illusionäre Tatsachen wie die „Wanderung“ der Sonne über die Himmelskuppel, falsche Tatsachen wie den Weltäther, und fiktionale Tatsachen wie den Bahnsteig 9¾ oder die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
Quellen
MAHNER, M. (2000) NR Stichwort Theorie. Naturwissenschaftliche Rundschau 53, S. 157-158.
VOLLMER, G. (1985) Was können wir wissen? Bd. 1 die Natur der Erkenntnis. Hirzel-Verlag, Stuttgart.
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