Die Studiengemeinschaft WORT UND WISSEN (W+W) ist die einflussreichste evangelikale Organisation in Deutschland und Europa mit Sitz in Freudenstadt (zuvor in Baiersbronn, Nordschwarzwald). Die Vereinigung ist ein Zusammenschluss bibeltreuer, publizistisch äußerst aktiver Christen, der sich die Verbreitung und „Akademisierung“ christlich-fundamentalistischer Standpunkte und Glaubensinhalte zur Hauptaufgabe gemacht hat. Ihr selbst erklärtes Ziel ist es, den Glauben an die wörtlich verstandene Genesis (Kreationismus) mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden und
… Denkhilfen [zu] geben, mit denen die Tatsachen dieser Welt und wissenschaftliche Erkenntnisse im biblischen Bezug vertreten… werden können. (W+W-Info 3/2007).
In diesem Sinn soll eine biblische 👉 Schöpfungsforschung als Alternative zur naturalistischen „Schulwissenschaft“ angeboten werden. Der Zweck des von W+W propagierten Schrifttums ist also vornehmlich ein apologetischer:
Schöpfungsforschung lässt sich zwar nicht direkt evangelistisch einsetzen, doch erfüllt sie die Funktion als „Vorbereitungs-“ und „Unterstützungswerkzeug“ zu einer Evangelisation und danach. Gerade Neubekehrte haben viele Fragen an den christlichen Glauben und brauchen in dieser Hinsicht auch fundierte Hilfe. Schöpfungsforschung bringt die Bibel in konkreten Bezug zur materiellen Welt und hilft suchenden und fragenden Menschen, Glaubenshindernisse aus dem Weg zu räumen. (W+W 2007)
Bibelkompatible Schöpfungs-Szenarien wie 👉 Intelligent Design seien den etablierten Evolutionswissenschaften zumindest gleichberechtigt. Das mutmaßliche „Design“ in der Natur wird sogar als plausibler dargestellt als eine natürliche Kosmogonie.
Historisches zu Wort und Wissen
Der Maschinenbauingenieur und Betriebswirt Theodor ELLINGER (1920–2004) gründete 1978 mit dem Ingenieur und Pfarrer 👉 Horst W. BECK (1933–2014) die Studiengemeinschaft WORT UND WISSEN. BECK spricht davon, dass er durch eine Begegnung mit Willem OUWENEEL eine Bekehrung zum Kreationismus erlebte.
ELLINGER war von 1980 bis 1997 Vorsitzender von W+W, auf ihn folgte der Mikrobiologie Siegfried SCHERER. Neuer Vorsitzender wurde 2006 der Arzt Henrik ULLRICH aus Riesa (Sachsen), zweiter Vorsitzender der Universitätsprofessor für pharmazeutische Chemie Peter IMMING aus Halle. Seit April 2018 ist der Chemiker Boris SCHMIDTGALL, neben dem Biologen Peter BORGER, vollzeitlicher Mitarbeiter und nach dem Ausscheiden von Reinhard JUNKER im Jahr 2023 auch neuer Geschäftsführer.
Missionstätigkeit
Der apologetische und wissenschaftsrevisionistische Aufwand, den W+W treibt, ist schlicht beeindruckend: Die Studiengemeinschaft hat mehr als 60 Bücher, Bildbände und Broschüren im Portfolio – einschließlich eines speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnittenen Medien-Angebots. Sie behandeln die Themen Bibel und Schöpfung, Evolution, Archäologie, Geologie, Kosmologie, Paläontologie, Naturphilosophie und Theologie. Einige der Bücher werden von Internetplattformen begleitet, auf denen ergänzendes Material zur Verfügung steht.
Weiterhin bietet die Plattform Genesisnet.info Newsmeldungen zu evolutionsbiologischen Themen. Exkursionen, „Fachtagungen“ und Seminare runden das Angebot ab, über das die Broschüre „Wort-und-Wissen Info“ die Anhänger quartalsweise informiert.
Ihr derzeit einflussreichstes Medium ist mit weitem Abstand das 👉 evolutionskritische Lehrbuch der Herausgeber und Hauptautoren Reinhard JUNKER und Siegfried SCHERER. Obwohl es nicht als Schulbuch zugelassen ist, kommt es in christlichen Bekenntnisschulen zum Einsatz. 2006 erhielt es sogar eine Auszeichnung vom Kuratorium Deutscher Schulbuchpreis, eine konservativ-christliche Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, „biblisch begründeten Werte und Normen“ zu vertreten. 2013 erschien es in der aktuell 7. Auflage. Größenordnungsmäßig wurden insgesamt ca. 50.000 Exemplare verkauft.
Des Weiteren betreibt W+W einen YouTube-Kanal mit Vortragsmitschnitten und leistet sich sogar ein eigenes „Fachjournal“ namens Studium Integrale Journal (SIJ). Die Namensähnlichkeit mit Studium Generale – den öffentlichen Lehrveranstaltungen an einer Hochschule – ist augenfällig und soll offenbar Wissenschaftlichkeit suggerieren.
Derzeit bieten sich 13 teils hauptamtlich für W+W arbeitende Referenten zu naturwissenschaftlichen Themen an. Ihre Vorträge sollen helfen, „wissenschaftliche Fakten in einem biblischen Zusammenhang zu verstehen“. Nahezu alle Referenten besitzen einen Doktortitel. Dadurch hebt sich ihr Niveau von der evangelikalen Missionstätigkeit anderer Organisationen ab: Inhaltlich grobe Fehler finden sich eher selten, wenngleich ihre Darstellungen evolutionärer Sachverhalte in vielen Punkten zumindest antiquiert sind. Wir haben dies exemplarisch am Beispiel der 👉 Abstammung der Vögel von mesozoischen Dinosauriern herausgearbeitet.
Die Außenwirkung von Wort und Wissen
Trotz ihres beeindruckenden Aufwands ist die Außenwirkung eher gering. Ein Großteil der Angebote scheint „selbst bei einem beachtlichen Teil der Wort-und-Wissen-Freunde relativ wenig bekannt“ zu sein (W+W-Info 3/2021). Ferner erreicht W+W die Jugend offenbar nicht: An einer Umfrage in der Anhängerschaft nahmen überwiegend Personen teil, die älter waren als 55 Jahre; lediglich drei Prozent waren „jünger als 25 Jahre“ (W+W-Info 3/2021).
Dessen ungeachtet ist nach Einschätzungen des Theologen und Religionswissenschaftlers Matthias ROSER der Einfluss von W+W in den sogenannten Bekenntnisschulen erheblich, weil sie leicht nutzbares Schulmaterial liefert. Deshalb, und weil sie auch im Umfeld von Universitäten präsent ist, birgt ihre Aktivität eine gewisse intellektuelle Gefahr.
Der aktive Unterstützerkreis lässt sich auf wenige tausend Personen schätzen (ROSER, pers. Mitteilung). Belastbare Zahlen gibt es hierzu jedoch keine.
Wort und Wissen und die Fokussierung auf Wissenschaft
WORT UND WISSEN rechtfertigt die akademische Ausrichtung ihrer Apologetik gern damit, dass sich ihre wissenschaftlichen Methoden nicht von denen der etablierten Wissenschaften unterscheiden würden. Sie akzeptierten „die empirische Methode der Naturwissenschaft“ das heißt den „methodologischen Naturalismus“ (STEBLER 2017), wonach Beobachtungen angestellt, Experimente durchgeführt und natürliche Erklärungen gesucht würden.
Sie würden lediglich die weltanschaulichen „Grenzüberschreitungen“ eines evolutionistischen Weltbildes (den weltanschaulichen Naturalismus der historischen Wissenschaften) ablehnen. So meint STEBLER (2017), es sei erkenntnistheoretisch nicht statthaft, „aus den Naturwissenschaften ein naturalistisches Weltbild abzuleiten“.
Bemerkenswert ist also die Fokussierung auf Wissenschaft. So stellt W+W an sich den Anspruch, „mit der wissenschaftlichen Argumentation übliche Qualitätsstandards zu erfüllen, und [wir] wollen uns daran messen lassen“ (WORT UND WISSEN 2008).
Warum ist dieser Anspruch verfehlt? Weshalb sind die Argumente, die W+W vertritt, größtenteils unwissenschaftlich? Da die Antwort auf diese Fragen relativ umfangreich ausfällt, widmen wir ihr 👉 einen eigenen FAQ-Beitrag.
Literatur
STEBLER, A. (2017) „Evolution verstehen“ – eine kritische Studie. https://www.wort-und-wissen.org/artikel/evolution-verstehen-eine-kritische-studie/. Stand: 01.03.2017. Zugr. a. 21.05.2024.
WORT UND WISSEN (2007) Warum ist die Arbeit bei Wort und Wissen wichtig? https://www.wort-und-wissen.org/disk/d07-5/. Stand: 22.12.2007. Zugr. a. 20.05.2024.
WORT UND WISSEN (2008) Kurzcharakterisierung wichtiger Ursprungslehren. Die Position der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. https://www.wort-und-wissen.org/disk/4-05/. Stand: 21.02.2008. Zugr. a. 03.04.2024.
WORT UND WISSEN Info (3/2007) https://www.wort-und-wissen.org/info/3-07/. Zugr. a. 20.05.2024.
WORT UND WISSEN Info (3/2021) https://www.wort-und-wissen.org/info/wort-und-wissen-info-3-2021/. Zugr. a. 20.05.2024.
Ausgewählte Analysen der Positionen von Wort und Wissen
❑ Woher wissen wir, dass Vögel Dinosaurier sind? (2023)
❒ Die Kritik an evolutionären Erklärungen: Beispiel Vogelflug (2021)
❑ Evolutionstheorie: Naturwissenschaft oder Naturgeschichte? (2021)
❒ Das Argument der Designfehler („unintelligentes Design“) (2021)
❑ Intelligent Design: Doch kein Lückenbüßer-Argument? (2021)
❒ Buchbesprechung: Michael Brandt: ‚Vergessene Archäologie‘ (2021)
❑ Gen für das Großhirn: die rasche Evolution des HAR1F-Gens (2020)
❒ Evolution in der Grundschule: ein Dorn im Auge der Evangelikalen (2020)
❑ Radiometrische Datierung: Warum der Kreationismus Ozeane zum Kochen bringt (2020)
❒ Buchbesprechung: Markus Widenmeyer: ‚Das geplante Universum‘ (2020)
❑ Rezension: Markus Widenmeyer: ‚Welt ohne Gott?‘ (2019)
❒ Ist die Evolutionstheorie eine Naturwissenschaft? (2019)
❑ Wissenschaft und Naturalismus aus Sicht von Wort und Wissen (2014)